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konservativ-liberalen Sichtweise, der zufolge „echter Liberalismus“158 per
se Anwalt des Föderalismus sei.159 Das Bekenntnis zu diesem war daher
Ausdruck derselben Grundhaltung wie die Sympathien für die kleinräumige
ständisch-korporative Vielfalt in der alten Reichsverfassung, nämlich der
Skepsis gegen Modernisierungsphänomene und der Ablehnung des absolu-
tistischen Obrigkeitsstaates.160 Die Argumentation erinnert an Otto Brun-
ners These, der ursprüngliche Gedanke des Ständetums sei nicht der Wille
zur Macht im Staat, sondern zur Freiheit vom Staat gewesen.161
8.5 Das Autoritäre
Der autoritäre Charakter des österreichischen Ständestaates ist der Aspekt,
der in der historiographischen Auseinandersetzung mit den Jahren 1933–
1938 einen Angelpunkt darstellt. Obwohl der Begriff in der Maiverfassung
nicht vorkommt, ist er realgeschichtlich eine erwiesene Tatsache.162 Otto
Ender erklärte im Februar 1934, der Übergang zum Ständestaat werde „au-
toritär, ja fast diktatorisch sein müssen“.163 Damit meinte er die dictatura im
Sinn des republikanischen Rom, nämlich die Notstandsregierung auf Zeit.164
Als Legitimation diente ein Konzept von „Autorität“, das zwar in sich kohä-
rent ist, aber zugleich die sie begründenden Werte politisch instrumentali-
sierte und Andersdenkende politisch ausschloss.165
Ein zentrales Dokument für diesen Begriff von Autorität ist Dollfuß’
Trabrennplatz-Rede von 1933: Der Kanzler setzte den Akzent nicht wie Au-
gust Zell, der, an Hobbes’ dezisionistische Befehlsgewalt erinnernd166, „eine
Staatsgewalt mit restloser Autorität“ forderte167, sondern hob den ursprüng-
lichen Sinn des Begriffs als „Ansehensmacht“ hervor168: „Autorität heißt
nicht Willkür, Autorität heißt geordnete Macht, heißt Führung durch ver-
antwortungsbewusste, selbstlose, opferbereite Männer.“169 Wenige Monate
158 Nicht der in Österreich im späten 19. Jahrhundert mächtig gewordene Liberalismus.
159 habermann, Das Maß, 32 und 34.
160 habermann, Das Maß, 95; stollberG-rilinGer, Vormünder, 1–3.
161 brunner, Die Freiheitsrechte, 189–192.
162 diamant, Katholiken, 243; binder/wohnout, Das autoritäre Regierungssystem, 151; wie-
derin, Christliche Bundesstaatlichkeit, 33 und 37 f.; wohnout, Regierungsdiktatur, 6.
163 Zit. nach barnay, Erfindung, 402.
164 hanisch, Der lange Schatten, 303; noser, Die historische Tragik, 214 f.
165 stollberG-rilinGer, Die Historiker, 37.
166 GG 1 (1972), 392 f. (Autorität, H. rabe).
167 Zell, Ständische Staats-Gliederung, 5.
168 GG 1 (1972), 382–384 (Autorität, H. rabe).
169 dollfuss an österreich, 31 und 52 f.; vgl. auch Kindermann, Österreich, 93 f.; wohnout,
Verfassungstheorie, 134–136.
8.5 DAS AUTORITÄRE 503
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580