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Nicht minder deutlich wurden die Folgen einer Politik, die ein leistungs-
orientiertes, einem zweckfreien Bildungsideal verpflichtetes Schulsystem
ablehnte, nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Erlebnis von Hitlers System
heraus beschrieben: Wilhelm Röpke bezeichnete Nivellierung der Bildung
nach unten als „Bildungsjakobinismus“, während eine Nivellierung nach
oben nicht möglich sei.445 Angesichts des bestehenden „Aristokratismus der
Natur“ sei Bildungsegalitarismus eine „selbstmöderische Tendenz“446; dies
gelte auch für die durch eine verfehlte Bildungspolitik drohende Akademi-
kerschwemme.447
Neben den Verfechtern geistiger Bildung gab es unter den Mandataren
des Ständestaates auch solche, die Vorbehalte äußerten. Bei Georg Baum-
gartner, dem mit Arbeitsrecht befassten Theologen, ist dies schon an seiner
Diktion zu ersehen. Im Rekurs auf Ciceros bekannte Einteilung der artes in
liberales und sordidae stellte er mit Bedauern eine vermeintlich „auffällige
Geringschätzung“ körperlicher Arbeit in der Antike der „einseitige(n) Pflege
der höheren Geistigkeit“ gegenüber.448 Ulrich Ilg plädierte für die manuelle
Arbeit, die in höherem Maß als die sogenannten gehobenen Berufe güterer-
zeugend wirke.449 Leopold Teufelsbauer klagte, die Gebildeten würden sich
unter dem Einfluss eines volksfernen Bildungsideals immer mehr aus der
Volksgemeinschaft lösen; sie hätten daran nur mehr wissenschaftliches In-
teresse, fühlten sich selbst aber geistig überlegen.450
Dies traf auf Karl M. Stepan zu, von dem bekannt ist, dass er, wiewohl
in der Volksbildung sehr engagiert, selbst einen elitären Abstand zum Volk
hielt.451 Ihn leitete wohl auch eine – freilich etwas wirklichkeitsferne – kon-
servative Zivilisationskritik.452
5.5 Persönlichkeit und Gemeinschaft
Gemeinschaft versus Masse
Die christliche Gesellschaftslehre, die „Individualismus“ und „Individuali-
tät“ begrifflich trennte, betonte die Doppelnatur des Menschen als individu-
445 habermann, Das Maß, 144.
446 habermann, Das Maß, 187.
447 habermann, Das Maß, 191.
448 baumGartner, Arbeit und Erwerb, 14–16.
449 ilG, Uns alle, 30 f.
450 teufelsbauer, Die geistigen Grundlagen, 4.
451 Pferschy, Steiermark, 958.
452 binder 1982, Karl Maria Stepan, 179; binder, Stepan/Dobretsberger, 26.
5. DER MENSCH IST
PERSON256
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580