Seite - 227 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Bild der Seite - 227 -
Text der Seite - 227 -
Für Clemens Holzmeister, der in seinen Bauten ebenfalls stets „die Harmo-
nie mit ihrer Umgebung“ anstrebte160, sie „organisch“ aus den natürlichen Ge-
gebenheiten wachsen ließ161, war Stifter einer „unserer größten Dichter“: Im
Rosenhaus im Nachsommer sah er „überall [...] das Ganze: jeder Gegenstand
ein Teil des Hauses, das Haus nur ein Glied des Ganzen“.162 Kurt Schuschnigg
betrachtete Sitfter als geeignete Lektüre für seinen heranwachsenden Sohn.163
Bei Josef Marx konkretisierte sich Harmonie als Tonalität.164 1909 ver-
fasste er zu diesem Thema eine später preisgekrönte Schrift: Welche Ge-
setzmäßigkeit begreift die Musiktheorie unter Tonalität? 1910 erschien
seine Dissertation: Über die Funktion von Intervall, Harmonie und Melodie
beim Erfassen von Tonkomplexen.165 Die atonale Musik hingegen, so Franz
Brandl, bedeute „Lösung aller Bindungen“; daraus folgerte er: „Die Musik
gliedert sich ins Politische ein.“166
Guido Zernattos mitunter als oberflächliche Bauern- oder Heimatlitera-
tur anmutende Dichtung167 beschreibt eine überindividuelle Ordnung, die
gestört ist, ein Leben, dem die rhythmische Sicherheit abhanden gekommen
ist: „Die Natur ist in uns, und wir sind in ihr Teil eines großen Ganzen, auch
wenn wir es nicht wissen, auch wenn wir uns hochmütig über sie erheben.“168
Der Dichter beschränkte sich indes nicht auf die Klage, sondern entwarf
eine positive Alternative. Eine Welt, die im Diesseits die Ordnung des Jen-
seits abbilde, in der Sicherheit Statik bedeutete, hielt er für den geeigneten
Raum, das von ihm geforderte Mitleid mit den Benachteiligten und Niedri-
gen sich entwickeln zu lassen.169
5.4 Leben und Geist
Das klassische Naturrecht
Nicht nur die katholische Soziallehre beruhte auf dem Neuthomismus
(Kap. 3.3), auch universalistische Denker fanden beim Aquinaten, der
160 holZmeister, Architekt, 271; vgl. hohenauer, Clemens Holzmeister, 215.
161 holZmeister, Bauwerk, 11; vgl. GinZKey, Heimatsucher, 225.
162 Knofler, Clemens Holzmeister, 1272 f.
163 binder/H. schuschniGG, „Sofort vernichten“, 250.
164 flotZinGer/Gruber, Musikgeschichte, 215.
165 werba, Joseph Marx, 249.
166 brandl, Kaiser, 166.
167 hanisch, Der lange Schatten, 334.
168 Zit. nach Zimmer, Guido Zernatto, 89.
169 rossbacher, Literatur, 100; rossbacher, Dichtung, 541.
5.4 LEBEN UND GEIST 227
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580