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Ständestaat, als organische Staaten klassifiziert werden müssten, aber von to-
talitären Vorstellungen weit entfernt seien. In ihnen könne sich in einer freien
Gesellschaft spontan ein sozialer Pluralismus entwickeln, der in kontrollierter
Form institutionalisiert und in die politischen Prozesse integriert werde. Dies
gehe allerdings auf Kosten der Beteiligung der Bürger im Unterschied zu den
Eliten. Der organische Staat wende nicht viel Kraft auf, um die Bürger in eine
bestimmte Richtung zu politisieren.242 Seine Theoretiker betonten, Menschen
seien die natürlichen Mitglieder von Gruppen, die auf primären sozialen Bin-
dungen beruhen (Arbeitsplatz, Universität, kirchliche Gemeinde etc.). Diese
Gruppen stünden in Kontrast zu künstlich geschaffenen, wie es politische Par-
teien sind. Es sei allerdings schwer, ein gemeinsames Interesse der primären
Gruppen auszumachen, weil sie sich kaum für übergeordnete Themen gewin-
nen ließen. Faktisch hätten die Eliten den größten Anteil an der Macht, die
korporative Struktur sei höchstens ein Element.243
Wie immer die Einschätzungen lauteten, es bleibt die Tatsache, dass
auch in Österreich in den dreißiger Jahren Repressionsmaßnahmen gesetzt
wurden. Diese waren aber ungleich milder als im nationalsozialistischen
Deutschland. Primäres Instrument war die Justiz, bis hin zur Wiederein-
führung der Todesstrafe.244 Verwaltungsstrafverfahren wurden in der Re-
gel rigoros durchgeführt, und gegen Misshandlungen Angeklagter von Sei-
ten der Polizei wurde nicht eingeschritten.245 Es gab auch Anhaltelager für
Verdächtige, mit den Konzentrationslagern in Deutschland kann man diese
aber nicht vergleichen.246
7.6 Schul- und Volksbildung
Bei allen Bekenntnissen zur Freiheit der Person wurde „staatsbürgerliche
Erziehung“247 im Ständestaat als dringlich empfunden.248 Walter Adam be-
gründete: Man liebe nur, was man kenne; die Verfassung sei „mehr als eine
Betriebsordnung“. Und: „Ein staatspolitisch gut erzogenes Volk ist gegen
242 linZ, Regime, 145–151.
243 linZ, Regime, 187–191.
244 binder, Der „Christliche Ständestaat“, 211; neuGebauer, Repressionsapparat, 298–302;
sonnleitner, Widerstand, 298; tálos, Herrschaftssystem (2013), 275–278.
245 tálos, Herrschaftssystem (2013), 230–237 und 273 f.
246 neuGebauer, Repressionsapparat, 312–314; rathKolb, Erste Republik, 504; tálos, Herr-
schaftssystem (2013), 285–291 und 582 f.
247 Zur Problematik dieses Begriffs vgl. Kucher, Staatsbürgerliche Erziehung, 244. Zur Sache
kritisch rathKolb, Erste Republik, 502 f.
248 hörburGer, Geschichte, 172 und 210; vgl. auch erben, Schule, 21–25.
7.6 SCHUL- UND VOLKSBILDUNG 511
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580