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24 Szenen aus Romanen handeln.30 Diese Vorlagen werden in das autobiografische
Gedächtnis importiert und schließlich erinnert, als wären sie Bestandteil der eige-
nen (Er-)Lebensgeschichte gewesen.
Neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse in Bezug auf den Wahrnehmungs-
und Erinnerungsprozess erhöhen nicht gerade das Vertrauen in autobiografische
Quellen von ZeitzeugInnen. So zeigt etwa der Hirnforscher Wolf Singer auf, dass
die Struktur sogenannter Erinnerungsspuren (Engramme) im Gehirn nicht son-
derlich gut geeignet ist, Wahrnehmungen und Erinnerungen – die ja holistischen
Charakter haben – in Sätze rationaler Sprache umzusetzen (wie dies bei Erzäh-
lungen oder Interviewsituationen der Fall ist). Wahrnehmungen liegen meist als
gebündelter Gesamteindruck vor, dessen verschiedene Komponenten aufs Innigste
assoziativ miteinander verknüpft sind. Was wir wahrzunehmen in der Lage sind
und wie wir wahrnehmen, ist durch die Natur der kognitiven Prozesse in unse-
rem Gehirn festgelegt. Naturgemäß wählen unsere Sinnessysteme aus dem breiten
Spektrum der Signale aus der Umwelt ganz wenige aus, und hier vor allem solche,
die für das Überleben in einer komplexen Welt besonders dienlich sind.31 Aus die-
sen wenigen Signalen konstruiert das Gehirn ein kohärentes Bild der Welt, wobei
uns unsere Primärwahrnehmung glauben lässt, dass dies alles sei, was da ist. Wofür
der Mensch keine Sensoren hat, das nimmt er nicht wahr und ergänzt die Lücken
durch Konstruktionen. Singer fasst zusammen, dass vor allem jene Ereignisse
die selektive Aufmerksamkeit auf sich ziehen und damit erinnerbar werden, die
entweder mit besonders auffälligen Reizen verbunden sind, oder aber solche, die
erwartet wurden. Erwartete Inhalte von Ereignissen werden schneller verarbeitet,
schneller identifiziert und gelangen dann meist auch bevorzugt ins Bewusstsein
und in die Langzeitspeicher. Der Mensch nimmt somit besonders gut wahr, was
er ohnehin erwartet.32 Das erschütternde Fazit Singers lautet: „Nun ließe sich mit
der Tatsache, daß Vorhandenes nicht wahrgenommen wird, noch umgehen, weil
in den Berichten dann zwar unvollständige Beobachtungen geschildert werden,
aber keine falschen Tatsachen. Viel problematischer wirkt sich dagegen aus, daß
unser Wahrnehmungsapparat immer danach trachtet, stimmige, in sich geschlos-
sene und in allen Aspekten kohärente Interpretationen zu liefern und für alles, was
ist Ursachen und nachvollziehbare Begründungen zu suchen.“33 Dieses neurowis-
senschaftliche Urteil über die Verlässlichkeit von Erinnerungen, allein in Hinblick
auf die ihnen zugrunde liegende Wahrnehmung, macht eine eingehende Reflexion
empirischer Wissenschaften mit Fokus auf Lebensgeschichten notwendig, deutet
allerdings auch ihr Potenzial für die vorliegende Forschungsarbeit an: Der Mensch
30 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 189.
31 Vgl. Fried, Johannes: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. Mün-
chen 2004. S. 138.
32 Singer, Wolf: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung
für die Geschichtswissenschaft. (Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags.) In: Singer,
Wolf: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt a. M. 2002. S. 77–86. Hier
S. 78–80.
33 Singer: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. S. 81.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439