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Geographie, Land und Leute
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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24 Szenen aus Romanen handeln.30 Diese Vorlagen werden in das autobiografische Gedächtnis importiert und schließlich erinnert, als wären sie Bestandteil der eige- nen (Er-)Lebensgeschichte gewesen. Neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse in Bezug auf den Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozess erhöhen nicht gerade das Vertrauen in autobiografische Quellen von ZeitzeugInnen. So zeigt etwa der Hirnforscher Wolf Singer auf, dass die Struktur sogenannter Erinnerungsspuren (Engramme) im Gehirn nicht son- derlich gut geeignet ist, Wahrnehmungen und Erinnerungen – die ja holistischen Charakter haben – in Sätze rationaler Sprache umzusetzen (wie dies bei Erzäh- lungen oder Interviewsituationen der Fall ist). Wahrnehmungen liegen meist als gebündelter Gesamteindruck vor, dessen verschiedene Komponenten aufs Innigste assoziativ miteinander verknüpft sind. Was wir wahrzunehmen in der Lage sind und wie wir wahrnehmen, ist durch die Natur der kognitiven Prozesse in unse- rem Gehirn festgelegt. Naturgemäß wählen unsere Sinnessysteme aus dem breiten Spektrum der Signale aus der Umwelt ganz wenige aus, und hier vor allem solche, die für das Überleben in einer komplexen Welt besonders dienlich sind.31 Aus die- sen wenigen Signalen konstruiert das Gehirn ein kohärentes Bild der Welt, wobei uns unsere Primärwahrnehmung glauben lässt, dass dies alles sei, was da ist. Wofür der Mensch keine Sensoren hat, das nimmt er nicht wahr und ergänzt die Lücken durch Konstruktionen. Singer fasst zusammen, dass vor allem jene Ereignisse die selektive Aufmerksamkeit auf sich ziehen und damit erinnerbar werden, die entweder mit besonders auffälligen Reizen verbunden sind, oder aber solche, die erwartet wurden. Erwartete Inhalte von Ereignissen werden schneller verarbeitet, schneller identifiziert und gelangen dann meist auch bevorzugt ins Bewusstsein und in die Langzeitspeicher. Der Mensch nimmt somit besonders gut wahr, was er ohnehin erwartet.32 Das erschütternde Fazit Singers lautet: „Nun ließe sich mit der Tatsache, daß Vorhandenes nicht wahrgenommen wird, noch umgehen, weil in den Berichten dann zwar unvollständige Beobachtungen geschildert werden, aber keine falschen Tatsachen. Viel problematischer wirkt sich dagegen aus, daß unser Wahrnehmungsapparat immer danach trachtet, stimmige, in sich geschlos- sene und in allen Aspekten kohärente Interpretationen zu liefern und für alles, was ist Ursachen und nachvollziehbare Begründungen zu suchen.“33 Dieses neurowis- senschaftliche Urteil über die Verlässlichkeit von Erinnerungen, allein in Hinblick auf die ihnen zugrunde liegende Wahrnehmung, macht eine eingehende Reflexion empirischer Wissenschaften mit Fokus auf Lebensgeschichten notwendig, deutet allerdings auch ihr Potenzial für die vorliegende Forschungsarbeit an: Der Mensch 30 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 189. 31 Vgl. Fried, Johannes: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. Mün- chen 2004. S. 138. 32 Singer, Wolf: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft. (Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags.) In: Singer, Wolf: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt a. M. 2002. S. 77–86. Hier S. 78–80. 33 Singer: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. S. 81.
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Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Title
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Subtitle
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Publisher
StudienVerlag
Location
Innsbruck
Date
2013
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
Size
15.8 x 23.4 cm
Pages
464
Keywords
Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
Category
Geographie, Land und Leute

Table of contents

  1. Vorwort 11
  2. Einführung 13
  3. 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
    1. 1.1. Potenzial und Grenzen des biografischen Interviews 18
    2. 1.2. Entstehung und Funktion von Erinnerungen 22
      1. 1.2.1. Wahrnehmung 22
      2. 1.2.2. Kollektives, kulturelles, kommunikatives, autobiografischesGedächtnis 25
      3. 1.2.3. Erinnerung 29
    3. 1.3. Spezifika von Erzählungen im Rahmen lebensgeschichtlicher Interviews 31
      1. 1.3.1. Vom Erzählen zur Erzählung 32
      2. 1.3.2. Spezifika von Erzählungen im narrativen Interview 34
      3. 1.3.3. Spezifika lebensgeschichtlicher Erzählungen 35
    4. 1.4. Potenzial der Erinnerungserzählungen 42
  4. 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
    1. 2.1. Zur Entstehung des Quellenmaterials 47
      1. 2.1.1. Der Idealtyp des narrativen Interviews und die Praxis 48
      2. 2.1.2. Die Arbeit mit dem erhobenen Quellenmaterial 50
      3. 2.1.3. Statistischer Überblick über die biografischen Interviews 52
    2. 2.2. Erinnerungspraxis und Erzähltradition: Definition und Forschungsziel 55
      1. 2.2.1. Zur Methodik der Auswertung und Analyse 58
      2. 2.2.2. Zur Darstellung der Ergebnisse 60
  5. 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
    1. 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
    2. 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
    3. 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
    4. 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
      1. 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
      2. 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
      3. 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
      4. 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
      5. 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
      6. 3.4.6. Modernisierung 112
      7. 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
      8. 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
      9. 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
      10. 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
      11. 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
      12. 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
      13. 3.4.13. Autoritäten 183
      14. 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
      15. 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
      16. 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
      17. 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
      18. 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
      19. 3.4.19. Repressives NS-System 230
      20. 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
      21. 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
      22. 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
      23. 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
      24. 3.4.24. Gefangenschaft 263
      25. 3.4.25. Heimkehr 268
      26. 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
      27. 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
      28. 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
      29. 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
      30. 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
      31. 3.4.31. Kriegsende 301
      32. 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
      33. 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
      34. 3.4.34. Entnazifizierung 324
      35. 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
      36. 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
      37. 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
      38. 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
      39. 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
      40. 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
      41. 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
      42. 3.4.42. Liebe und Ehe 370
      43. 3.4.43. Geburt der Kinder 381
      44. 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
      45. 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
      46. 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
      47. 3.4.47. Naturkatastrophen 400
      48. 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
      49. 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
      50. 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
  6. 4. Zusammenfassung und Synthese 421
    1. 4.1. Erzählstoffe und Leitlinien 422
      1. 4.1.1. Die 50 Erzählstoffe einer Durchschnittsbiografie 424
      2. 4.1.2. Ein Leben geprägt von Wandel 427
      3. 4.1.3. Arbeit als Lebensthema 428
      4. 4.1.4. Männer- und Frauenerzählungen 429
      5. 4.1.5. Geschichtliches und Lebensgeschichtliches 430
    2. 4.2. Erzählstrukturen und -strategien: Rechtfertigung, Idyllisierung, Vergleich 432
  7. 5. Verzeichnisse und Nachweise 439
    1. 5.1. Liste der anonymisierten ZeitzeugInnen 439
    2. 5.2. Literaturverzeichnis 440
    3. 5.3. Internetquellen 454
    4. 5.4. Abbildungsverzeichnis 454
    5. 5.5. Ortsregister 458
    6. 5.6. Personenregister 461
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