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26 Gruppen lokalisiert.38 Jan und Aleida Assmann39 griffen das Konzept des kollek-
tiven Gedächtnisses auf und unternahmen eine genauere kulturwissenschaftliche
Bestimmung von Gedächtnisformen. Sie trafen eine Unterteilung des kollekti-
ven in ein „kulturelles“ und ein „kommunikatives Gedächtnis“.40 Jan Assmann
definierte das kulturelle Gedächtnis als „Sammelbegriff für alles Wissen, das im
spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert
und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung
ansteht“41. Das kommunikative Gedächtnis hingegen sei gekennzeichnet durch ein
hohes Maß an „Unspezialisiertheit, Rollenreziprozität, thematische Unfestgelegt-
heit und Unorganisiertheit“42. Während sich die Wirkungsdauer des kommunika-
tives Gedächtnisses auf drei bis vier Generationen – also das Traditionsverhältnis
zwischen Großeltern und Enkeln – eingrenzen lässt, wird alles, was darüber hin-
ausgeht, nach Assmann ins kulturelle Gedächtnis transformiert.43 Das kommuni-
kative Gedächtnis ist somit im Vergleich zum kulturellen Gedächtnis so etwas wie
das Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft, denn es ist an die Existenz der lebendigen
Tragenden und Kommunizierenden von Erfahrung gebunden. Es bezeichnet die
Verständigung der Gruppenmitglieder darüber, was sie für ihre eigene Vergan-
genheit halten und welche Bedeutung sie dieser beimessen. Das kommunikative
Gedächtnis ist durch Alltagsnähe gekennzeichnet, im Gegensatz zum kulturellen
Gedächtnis, welches sich auf Fixpunkte stützt, die gerade nicht mit der Gegen-
wart mitwandern und – als schicksalhaft und bedeutsam markiert (beispielsweise
durch Texte, Riten, Denkmäler, aber auch Rezitation, Begehung oder Betrachtung)
– wachgehalten werden. Zu trennen sind das kulturelle und das kommunikative
Gedächtnis nur in der Analyse, denn in der Erinnerungspraxis der Individuen und
sozialen Gruppen hängen ihre Formen und Praktiken zusammen.44
Welzer greift in einer ausführlichen Arbeit zum Thema Erinnerung den Begriff des
„kommunikativen Gedächtnisses“ auf und ergänzt diesen durch eine neurowissen-
schaftlich und psychologisch gestützte Interpretation der Kommunikativität des
Gedächtnisses. Das Gedächtnis ist, naturwissenschaftlich betrachtet, ein konstruk-
tives System, das Realität nicht einfach abbildet, sondern auf unterschiedlichsten
Wegen und nach unterschiedlichsten Funktionen filtert und interpretiert. Erinne-
rungsspuren (Engramme), die Erfahrungen im Gehirn repräsentieren, sind entge-
gen früheren Vermutungen nämlich nicht an bestimmten Stellen des Gehirns zu
38 Gudehus/Eichenberg/Welzer (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. S. 85.
39 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frü-
hen Hochkulturen. München 1992.
40 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 13.
41 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann, Jan und Tonio Höl-
scher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988. S. 9–19. Hier S. 9.
42 Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. S. 9.
43 Lehmann, Albrecht: Reden über Erfahrung. Kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse des
Erzählens. Berlin 2007. S. 62.
44 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspoli-
tik. München 2006. S. 51–54.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439