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28 Arbeit sind vor allem zwei Forschungsinteressen dieses Wissenschaftsbereiches
von Relevanz: Mit dem sogenannten Phänomen der „kindlichen Amnesie“ wird
die Erkenntnis bezeichnet, dass die Kindheitserinnerungen von Erwachsenen
erst mit drei- bis dreieinhalb Jahren einsetzen – wobei das Einsetzen des Erinne-
rungsvermögens (und damit des autobiografischen Gedächtnisses) besonders vom
Kommunikationsstil der Eltern abhängt, da Erinnerungen durch Kommunikation
und Interaktion erarbeitet und gefestigt werden.51 Ein zweites interessantes Phä-
nomen des autobiografischen Gedächtnisses, bezeichnet als „reminiscence bump“
(etwa: Erinnerungshügel), beschreibt die Tatsache, dass es im autobiografischen
Rückblick lebensalter- und entwicklungsspezifisch unterschiedliche Dichten von
Erinnerung gibt. So wird von älteren Befragten die Lebenszeit zwischen zehn und
dreißig Jahren besonders gut erinnert, was durch die Ausbildung der Identität, die
besonders in diese Lebensspanne fällt, erklärt wird.52
Die neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung unterscheidet insgesamt
fünf Typen von Gedächtnissystemen, wobei für das autobiografische Erinnern
vor allem zwei Typen relevant sind. Einerseits ist das Kurzzeitgedächtnis (auch
Arbeitsgedächtnis genannt) von besonderer Bedeutung, da hier vorübergehend
festgehalten wird, was für im Moment anstehende Handlungsfolgen relevant
erscheint, beispielsweise gerade nachgeschlagene Telefonnummern bis zum Ende
des Wahlvorganges oder Ort und Gestalt von Objekten. Die Funktion des Kurz-
zeitgedächtnisses vermittelt dem Menschen die Erfahrung der Kontinuität von
Zeit und ermöglicht die Unterscheidung zwischen „vorher“ und „jetzt“. Die Kapa-
zität dieses Speichers ist äußerst begrenzt, dieser ist aber eng mit dem Wahrneh-
mungsprozess verschränkt, da er gleichzeitig bereithält, was sich nacheinander
ereignet und so die Herstellung von Bezügen und die Einordnung der Gescheh-
nisse in einen zeitlichen Rahmen erlaubt. Das episodische Gedächtnis (eine Form
des Langzeitspeichers) andererseits ermöglicht, Ereignisse auch noch nach Tagen
oder Jahren zu erinnern. Hier kann die Erinnerung an Ereignisse zusammen mit
dem Kontext, in dem sie geschehen sind, wieder wachgerufen werden.53 So ist es
Menschen möglich, sich an eigenes Erleben in Zusammenhang mit markanten
Ereignissen zu erinnern – also sich ins Gedächtnis zu rufen, wo man gewesen ist
und was man gerade tat, als eineN beispielsweise die Nachricht des Anschlags auf
das World Trade Center am 11. September 2001 erreichte.
51 Nelson: Über Erinnerung reden. S. 81–83.
Vgl. auch: Hayne, Harlene und Shelley MacDonald: The Socialization of Autobiographical Memory
in Children and Adults: The Roles of Culture and Gender. In: Fivush, Robyn und Catherine Haden
(Hg.): Autobiographical Memory and the Construction of a Narrative Self. Developmental and
Cultural Perspektives. London 2003. S. 99–120. Hier S. 99f.
52 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 42.
53 Singer: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. S. 81f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439