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Geographie, Land und Leute
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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33 Ein Vorreiter in Bezug auf die Erforschung des Alltäglichen Erzählens war der schwedische Erzählforscher Carl Wilhelm von Sydow, der in den 1930er Jahren neben anderen Erzählgattungen auch die Bedeutung des „Memorats“ darstellte. Darunter verstand er die Erzählungen der Menschen über eigene rein persönli- che Erlebnisse. Sydow, der sich vor allem auf die überschaubaren Kommunika- tionsverhältnisse in Familien des vorindustriellen Dorfes bezog, stellte dar, dass ein Memorat, wenn die Zuhörenden die Geschichte aufregend fanden und sie bei anderer Gelegenheit erneut zum Besten gaben, im Rahmen eines Traditionspro- zesses Schritt für Schritt zur Erinnerungssage werden kann.71 Dieser Schritt ent- spräche, dies sei nur am Rande erwähnt, der Transformation einer Erinnerung vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis. Bevor in den folgenden Kapiteln detaillierter auf Erzählen im Interview und lebensgeschichtliches Erzählen eingegangen wird, sollen einige grundlegende Überlegungen zu und Merkmale von Erzählungen vorangestellt werden. Die bis- herigen Ausführungen haben es bereits deutlich gemacht, dennoch soll an dieser Stelle nochmals betont werden: Der Mensch als geschichtliches Wesen hat eine Ver- gangenheit und eine Perspektive auf die Zukunft. Die eigene Geschichte erreicht aber vor allem dann einen bestimmten Grad der Bewusstheit, wenn sie in Sprache artikuliert und in Geschichten formuliert wird – wenn sie durch das Erzählen also in kommunikative und damit soziale Gefüge überführt wird.72 Erzählen steht – ebenso wie das Handeln, Reden und Schreiben – unter dem Eindruck der Gegen- wart, das heißt unter dem Eindruck der aktuellen kommunikativen Situation und der übergreifenden historischen Situation.73 Die Tatsache, dass das Erzählen eine Darstellungsweise von Geschichte in Gestalt von Geschichten ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um eine Rekonstruktion eines Sachver- halts handelt – und nicht etwa eine historische Realität wiedergegeben wird. Die Rekonstruktion unterliegt selektiven, situativen, fiktiven und interpretierenden Einwirkungen, diese lassen sich mit der wichtigsten Funktion des Erzählens für die erzählende Person erklären: Erzählen bewirkt Sinnbildung. Diese Sinnbildung wiederum nimmt Einfluss auf das Entstehen der Erzählung und die Erzählung selbst. Darüber hinaus ist das Erzählen an sich bereits eine Art des geschichtlichen Erklärens, denn jede Geschichte bietet eine Erklärung des geschichtlichen Ereig- nisses sowie eine Deutung durch den/die ErzählerIn.74 Ganz am Rande sollen neben der Sinnbildung kurz zwei weitere Einflussfaktoren genannt werden, die zu einer Modifikation der Erzählung gegenüber dem tatsäch- lichen Ereignisverlauf führen können. Gabriele Michel unterscheidet hier zwi- 71 Lehmann: Reden über Erfahrung. S. 32f. 72 Fischer, Helmut: Erzählen – Schreiben – Deuten. Beiträge zur Erzählforschung. Münster 2001. S. 189. 73 Lehmann, Albrecht: Bewußtseinsanalyse. In: Göttsch, Silke und Albrecht Lehmann (Hg.): Metho- den der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie. Berlin 2001. S. 233–250. Hier S. 243. 74 Fischer: Erzählen – Schreiben – Deuten. S. 189f.
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Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Title
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Subtitle
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Publisher
StudienVerlag
Location
Innsbruck
Date
2013
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
Size
15.8 x 23.4 cm
Pages
464
Keywords
Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
Category
Geographie, Land und Leute

Table of contents

  1. Vorwort 11
  2. Einführung 13
  3. 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
    1. 1.1. Potenzial und Grenzen des biografischen Interviews 18
    2. 1.2. Entstehung und Funktion von Erinnerungen 22
      1. 1.2.1. Wahrnehmung 22
      2. 1.2.2. Kollektives, kulturelles, kommunikatives, autobiografischesGedächtnis 25
      3. 1.2.3. Erinnerung 29
    3. 1.3. Spezifika von Erzählungen im Rahmen lebensgeschichtlicher Interviews 31
      1. 1.3.1. Vom Erzählen zur Erzählung 32
      2. 1.3.2. Spezifika von Erzählungen im narrativen Interview 34
      3. 1.3.3. Spezifika lebensgeschichtlicher Erzählungen 35
    4. 1.4. Potenzial der Erinnerungserzählungen 42
  4. 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
    1. 2.1. Zur Entstehung des Quellenmaterials 47
      1. 2.1.1. Der Idealtyp des narrativen Interviews und die Praxis 48
      2. 2.1.2. Die Arbeit mit dem erhobenen Quellenmaterial 50
      3. 2.1.3. Statistischer Überblick über die biografischen Interviews 52
    2. 2.2. Erinnerungspraxis und Erzähltradition: Definition und Forschungsziel 55
      1. 2.2.1. Zur Methodik der Auswertung und Analyse 58
      2. 2.2.2. Zur Darstellung der Ergebnisse 60
  5. 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
    1. 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
    2. 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
    3. 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
    4. 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
      1. 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
      2. 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
      3. 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
      4. 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
      5. 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
      6. 3.4.6. Modernisierung 112
      7. 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
      8. 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
      9. 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
      10. 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
      11. 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
      12. 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
      13. 3.4.13. Autoritäten 183
      14. 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
      15. 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
      16. 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
      17. 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
      18. 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
      19. 3.4.19. Repressives NS-System 230
      20. 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
      21. 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
      22. 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
      23. 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
      24. 3.4.24. Gefangenschaft 263
      25. 3.4.25. Heimkehr 268
      26. 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
      27. 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
      28. 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
      29. 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
      30. 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
      31. 3.4.31. Kriegsende 301
      32. 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
      33. 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
      34. 3.4.34. Entnazifizierung 324
      35. 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
      36. 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
      37. 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
      38. 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
      39. 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
      40. 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
      41. 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
      42. 3.4.42. Liebe und Ehe 370
      43. 3.4.43. Geburt der Kinder 381
      44. 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
      45. 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
      46. 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
      47. 3.4.47. Naturkatastrophen 400
      48. 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
      49. 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
      50. 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
  6. 4. Zusammenfassung und Synthese 421
    1. 4.1. Erzählstoffe und Leitlinien 422
      1. 4.1.1. Die 50 Erzählstoffe einer Durchschnittsbiografie 424
      2. 4.1.2. Ein Leben geprägt von Wandel 427
      3. 4.1.3. Arbeit als Lebensthema 428
      4. 4.1.4. Männer- und Frauenerzählungen 429
      5. 4.1.5. Geschichtliches und Lebensgeschichtliches 430
    2. 4.2. Erzählstrukturen und -strategien: Rechtfertigung, Idyllisierung, Vergleich 432
  7. 5. Verzeichnisse und Nachweise 439
    1. 5.1. Liste der anonymisierten ZeitzeugInnen 439
    2. 5.2. Literaturverzeichnis 440
    3. 5.3. Internetquellen 454
    4. 5.4. Abbildungsverzeichnis 454
    5. 5.5. Ortsregister 458
    6. 5.6. Personenregister 461
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