Page - 40 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Image of the Page - 40 -
Text of the Page - 40 -
40 wert, die von ihnen als entscheidend oder typisch für ihr Leben oder ihre Persön-
lichkeit erachtet werden. Dabei hebt Michel drei Momente hervor: Erstens kann
die Einzigartigkeit eines Ereignisses, zweitens seine Vergleichbarkeit, und drittens
der Zeitpunkt des Ereignisses darüber entscheiden, ob das Erlebnis erzählt wird.
Während bei der Erzählung eines einzigartigen Erlebnisses das Sich-Heraushe-
ben aus der Gruppe beabsichtigt wird, geht es beim Vergleich von Ereignissen in
Erzählungen im Gegenteil um das Signalisieren von Zugehörigkeit zur Gruppe.
Das Thematisieren des Zeitpunktes eines Ereignisses spielt besonders in biografi-
schen Erzählungen eine wichtige Rolle, da auf diese Weise das eigene Leben in die
historische Geschichte eingefügt wird.
Albrecht Lehmann untersuchte am Beispiel biografischer Erzählungen die soge-
nannten Leitlinien lebensgeschichtlichen Erzählens. Bei der Analyse umfangrei-
cher Tonband-Transkripte erkannte er, dass viele der von den Befragten erzählten
Ereignisabfolgen „in der Form, aber vor allem im Inhalt sehr ähnlich ausfallen.
Unsere Gesprächspartner orientierten sich, wenn sie über ihr Leben sprachen,
immer wieder an vielen gleichen, an gleichartigen oder sehr ähnlichen Erfahrun-
gen und Erfahrungszusammenhängen. Sie bedienten sich zur Erzählung ihres
Lebens bestimmter, mehr oder weniger festliegender Erinnerungsabfolgen.“98
Diese sehr allgemeine Definition von Leitlinien des Erzählens entspricht in etwa
der Metapher vom „roten Faden“, der sich durch eine Erzählung zieht.
Schröder greift den Begriff auf und ergänzt, dass eine Leitlinie dort entstünde,
wo eine Abfolge mehrerer (mindestens drei) gleichartiger oder sehr ähnlicher
Erfahrungen in einem Erzählzusammenhang auftaucht.99 Lehmann stellt fest, dass
eine lebensgeschichtliche Erzählung im Allgemeinen aus einer Fülle von Leitlinien
besteht. Die Gesamtheit der Leitlinien des chronologischen lebensgeschichtlichen
Erzählens bezeichnet er als Erzählstruktur.100 Zum besseren Verständnis: Eine Leit-
linie des lebensgeschichtlichen Erzählens könnte beispielsweise die Darstellung
bzw. Aneinanderreihung der Urlaubsreisen in den Nachkriegsjahrzehnten sein,
während in Bezug auf die Kindheit die Erzählungen über verschiedenste Tätigkei-
ten und Arbeitsfelder, für die man als Kind zuständig gemacht wurde, einen guten
Teil der Erzählung strukturieren oder auch leiten können. Die Gesamtheit dieser
Leitlinien ergibt die spezifische Erzählstruktur der Lebensgeschichte einer Person.
Ein Merkmal vieler lebensgeschichtlicher Erzählungen – insbesondere, wenn es
sich bei bestimmten Episoden der Erzählung um einen persönlichen Mythos han-
delt, das heißt um eine Episode, die eine Funktion wie etwa die Erhöhung des
Selbstwerts ausübt – ist ferner, dass Menschen in ihren Erzählungen mitunter
einen Anspruch auf historische Wahrheit erheben. Mit einer unerschütterlichen
98 Lehmann, Albrecht: Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens. In: Brednich, Rolf Wilhelm
(Hg.): Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Autobiographische Materialien in der volkskund-
lichen Forschung. Freiburg i. Br. 1982. S. 71–87. Hier S. 80.
99 Schröder: Die gestohlenen Jahre. S. 72.
100 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 19.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439