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Gestalterschließung und der Kondensierung zählen. Mithilfe einer erzählgene-
rierenden Frage in der Einstiegsphase – in unserem Fall beispielsweise der Frage
nach den ersten Kindheitserinnerungen – wird die Gewährsperson zum Erzäh-
len aufgefordert und beginnt mit ihrer sogenannten „Stegreiferzählung“.4 Dabei
wird die erzählende Person so wenig wie möglich unterbrochen und Unklarheiten
oder mögliche Rückfragen werden notiert, damit wichtig erscheinende Informati-
onen oder Zusammenhänge in der abschließenden Nachfragephase ergänzt wer-
den können. Die Nachfragen wurden so formuliert, dass nach Möglichkeit erneut
Erzählungen in Gang kommen sollten.5
In der Praxis stellten sich die idealtypischen Stegreiferzählungen der InformantIn-
nen als sehr unterschiedlich in Bezug auf die Länge der Erzählung und ihren Infor-
mationsgehalt dar. Nur wenige ZeitzeugInnen wurden gleich eingangs von ihren
eigenen Ausführungen „mitgerissen“ und tauchten in die eigene lebensgeschicht-
liche Erzählung ein. Unsicherheiten, ob das Erzählte überhaupt von Interesse sei,
und die Vorstellung, dass die Interviewenden etwas ganz Konkretes wissen woll-
ten, machten meist zahlreiche weitere erzählgenerierende Fragen notwendig, wie
etwa: „Wie war das dann in der Schule?“ oder „Was geschah dann weiter?“. Nach-
dem die erzählende Person zu einem scheinbaren Ende der Ausführungen ihrer
Biografie gekommen war, spielte neben den während des Interviews gemachten
Notizen der Leitfaden eine wesentliche Rolle. Er diente der interviewenden Per-
son als Orientierung, welche Themenbereiche durch die Erzählung noch gar nicht
berührt worden waren, und ermöglichte schließlich eine leitfadengestützte Ergän-
zung der Erzählung. Der offene Interviewleitfaden enthielt folgende Aspekte, die
weitgehend der Norm einer „Normalbiografie“6 entsprechen:
• Geburtsdatum und -ort sowie familiäres Umfeld (Eltern, Geschwister und
deren Lebensdaten, Herkunft, Beruf)
• Kindheit und Schulzeit (Arbeit und Freizeit, Schulart und Schulalltag, Ereig-
nisse, Familienleben)
• Beruf(-swahl) und Arbeitswelt (Alter, Orte, Beziehungen, Auswanderung, Ver-
änderung der Berufsfelder)
• Partnerschaft und Familie (Alter, Kinder, Wohnsituation, geschlechtsspezifi-
sche Arbeitsteilung, Kindererziehung, Modernisierung des Haushaltes)
• Alltag und Lebenswelt (Religion, Bräuche, Aberglaube, Kleidung, Hygiene;
aber auch: Mitgliedschaft in Vereinen, Genossenschaften)
• Besondere Ereignisse, z.B. Naturkatastrophen (Lawinen, Muren)
4 Schmidt-Lauber, Brigitte: Das qualitative Interview oder: Die Kunst des Reden-Lassens. In:
Göttsch, Silke und Albrecht Lehmann (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen,
Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie. Berlin 2001. S. 165–186. Hier S. 174f.
5 Fuchs-Heinritz: Soziologische Biographieforschung. S. 11.
6 Felden, Heide von: Gender und Erfahrung. Zur Genderdiskussion in der Biographieforschung. In:
Schlüter, Anne und Ines Schell-Kiehl (Hg.): Erfahrung mit Biographien. Tagungsdokumentation
der Duisburger Tagungen zum Thema „Erfahrungen mit Biographien“. Bielefeld 2004. S. 65–77.
Hier S. 65.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439