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64 gegeben während dem Krieg. Es ist alles rationiert gewesen. Dann habe ich
noch geschrieben: Die jungen Männer sind eingerückt im Krieg. Wenn einmal
einer auf Urlaub gekommen ist, hat man gefeiert. Aber zum Trinken hat man
gehabt: ein Schnäpschen oder einen selber gemachten Likör, mit Glühwürm-
chen, oder Kaiserbirn, von Essigessenz Fläschchen gemacht. Feldpostpäckchen
hat man dann auch den Soldaten verschickt, mit gedörrten Birnen und „Öpfl-
schnitz“27. Wenn die Nachricht gekommen ist, dass einer vom Dorf gefallen
ist, dann ist das schon sehr traurig gewesen. Man hat ja nur ein Kreuz auf den
Friedhof stecken können. Die Montafoner haben immer gerne geschmuggelt.
Einmal durfte ich mit einer Tante, wo auf dem Ziegerberg gewohnt hat, mit
ins Prättigau. Mit diesem Rucksäckchen früh am Morgen sind wir auf den
Weg. Bei der Tilisuna-Hütte haben wir das Rucksäckchen abgelegt und sind
über die Grenze, über die „Gruben“ hinunter. Da hat es eine kleine Wirtschaft
gegeben, oben ein „Lädili“28. Ich weiß noch, ich habe ein Dirndl angehabt mit
Puffärmeln. Dann habe ich eingekauft: Saccharin und Muskatnuss. Die habe
ich verteilt in diesen zwei Ärmeln. Dann hat man ein Kopftuch – das haben
die Tschaggunser gewusst, wie man das machen muss – ein Kopftuch, dann
hat man Pfeifentabak, das sind so braune Päckchen gewesen, offen gemacht
und das eingewickelt, und das unter dem Rock um den Bauch herum hat man
es verteilt. Ja. Ja. Das ist gewesen für den „Däta“29 dieser Tabak. Wir Mädchen
haben auch mit den Nachbarn viel gesungen. [4 sec. Pause] Das Träumen ist
uns gar nicht mehr ausgegangen, weil wir so gerne gesungen haben. […] Ja,
und dann mussten wir auch „Gmewärch“30 machen. Musste man „Gmewärch“
machen. Mein Vater ist von Tschagguns gewesen. Der hat das Vieh in die
Tilisuna gebracht. Da sind wir zu zweit zu Fuß hinauf, über das Landschisott,
Ziegerberg in die Tilisuna zum „Stafel“31. Da hat man gesagt den Schmalz-
berg neben der Tilisuna-Hütte würde man räumen. Den ganzen Tag mit etwa
zwanzig Leuten mit einem Rechen hat man Steine herunter gerecht. Die Stun-
den sind erst angerechnet worden oben bei der Hütte, also wo man angefan-
gen hat. Dann sind wir zum Stafel zurück wieder am Abend. Jeder hat einen
Sauren Käse in den Rucksack geladen. Wir sind wieder über den Ziegerberg
zurück ins Landschisott. Auf Garfrescha hat es dann ein furchtbares Unwet-
ter gegeben. Geblitzt hat es und gedonnert, dass wir den Weg fast nicht mehr
gesehen haben. Es ist ein langer Tag gewesen. Wo ich dann zwanzig gewesen
bin, hat mich eine Nachbarin gefragt, die ist vor dem Heiraten gewesen, ob
ich mitgehen würde in die Saison, nach Arosa ins „Office“. Ich durfte dann
mitgehen. Dort mussten wir Weissgeschirr und Besteck abwaschen. In der
Küche mussten wir am Morgen helfen. Die Köche haben schon öfters betont:
ihr Österreicher. 140 Franken haben wir verdient. Das ist natürlich mein ers-
27 getrocknete Apfelspalten.
28 kleiner Einkaufsladen.
29 Vater.
30 Gemeindearbeit.
31 Alpgebäude, Zentrum der Alpe.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439