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tes verdientes Geld gewesen. Aber es ist ein Erlebnis gewesen. So gutes Essen
sind wir nicht gewohnt gewesen. Mit diesen Franken sind wir dann über die
Grenze. Man hat halt immer ein bisschen ein schlechtes Gewissen gehabt. Ja.
[Blättert in ihren Unterlagen] Ja. Was wollte ich noch? [5 sec. Pause] Aber es
ist ein eigenes verdientes Geld gewesen. Da habe ich davon Stoff gekauft für
eine Montafoner Schürze für die Tracht. In Bludenz im Schwarzhandel beim
Wegscheider. Dann ein Damenfahrrad. Vorher bin ich mit dem Herrenfahr-
rad vom Papa gefahren, auf der Stange. Und auch einen Staubmantel. Das
ist auch eine Bereicherung gewesen, habe ich gekauft. Mit 22 Jahren durfte
ich zur Firma Getzner in die Küche, wo ich so Manches gelernt habe. 1954
musste ich in die Frühschicht gehen, morgens um vier Uhr anfangen. Da hat
es geschneit und geschneit und geschneit. Es sind dann diese Lawinen herun-
ter gegangen. Und die Montafonerbahn ist nicht mehr gefahren. Man musste
zu Fuß nach Hause. Im Sommer bin ich halt mit dem Fahrrad gefahren. Über
das Böschis herein. Weil ich heim wollte, um zu heuen. Im Jahr darauf habe
ich dann geheiratet, den JL. In die Familie L. In diesem Haushalt sind gewe-
sen: die „Ahna“32, vom JL drei Brüder, einer davon behindert. Bald ist dann
ein Junge auf die Welt gekommen. Es hat dann langsam mit den ersten Gästen
angefangen. Aber man hat viel machen müssen in diesem alten Haus. Spül-
klosett und Wasser in die Zimmer. Auto haben wir keines gehabt. Die Gäste
haben wir mit dem „Handwägile“33 abgeholt. Aber es ist schon eine schöne
Zeit gewesen. Man hat es geschätzt, wenn du wieder etwas anschaffen konn-
test und verbessern. So ziemlich. [lacht laut]
I: Ja super, dankeschön. Das ist einmal ein guter Überblick.
KL: Ja es ist halt ein bisschen gestottert, weißt du. [lacht laut] […] Ja. Reicht
das?
I: Nein. Ich hätte schon noch ein paar Fragen.
Diese Erzählung – oder besser: Aneinanderreihung – findet hier in ihrer ganzen
Länge Platz, um anhand dieses beispielhaften Überblicks die für KL wichtigsten
Stationen ihres Lebens verdeutlicht zu sehen. Zusammengefasst beschreiben diese
erste schöne Kindheitserinnerungen, die einfachen Verhältnisse in der Kindheit
sowie die harte Arbeit, die geleistet werden musste, besondere Geschenke und den
Alltag sowie die Ernährung, in der Folge Kriegserinnerungen und Erzählungen
vom Schmuggeln, Erinnerungen an die Alpwirtschaft, an die erste Arbeit, das erste
selbstverdiente Geld und die Dinge, die man sich damals dafür kaufte, und schließ-
lich Erinnerungen an die Anfänge des Arbeitslebens, des Tourismus und an die
Familiengründung. Auffallend ist, und diese Tatsache spiegelt sich in den meis-
ten lebensgeschichtlichen Erzählungen der Befragten wider, dass insbesondere
die erste Hälfte des Lebens für erzählenswert erachtet wird. Darüber hinaus zeigt
dieser Ausschnitt sehr anschaulich auf, wie sich die persönliche Geschichte immer
wieder mit Ereignissen im Tal vermischt: So etwa würde KL kaum die Schneefälle
32 Großmutter.
33 Leiterwagen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439