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Geographie, Land und Leute
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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Page - 86 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg

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86 „dröscht“68. […] Und dann im Winter haben wir dann oft einmal … hat man so einen Mühleschlitten haben wir dann gehabt. Das ist ein „Haraschlitta“69 gewesen, ein leichterer. Haben wir dann das Getreide, das Korn mit in diese Mühle da. Und dann hat man es dann wieder holen können. Und daheim hat man diese Getreidetröge gehabt, auf der „Dieli“70 oben. Vom freien Sonntag kommt AZ auf die Holzarbeit zu sprechen, die offenbar für den Samstag typisch war. Die Erinnerung an den gefährlichen Holztransport führt den Erzähler über die Formulierung „für das nackte Leben hat man gearbeitet“ hin zur Beschreibung der Selbstversorgerwirtschaft, die unter anderem auf dem Ackerbau basierte, der im Montafon heute (mit Ausnahme des Maisanbaus) seit Jahrzehnten nicht mehr praktiziert wird. Dieser Assoziationskette liegt ein Topos zugrunde, den AZ in diesem Ausschnitt auch konkret ausformuliert: „Eben das könnte man sich heute gar nicht mehr vorstellen.“ Wie am Eingang dieses Kapitels dargestellt wurde, handelt es sich bei einem Topos um einen Schlüsselsatz per- sönlicher Erfahrung, der gleichzeitig aber auch kollektive Erfahrung widerspie- gelt. Dass etwas heute nicht mehr vorstellbar sei, stellt weniger ein Sprachstereotyp als vielmehr ein Denkstereotyp dar, das einen Affekt repräsentiert:71 nämlich die Erfahrung, dass sich nachfolgende Generationen kaum mehr in die persönliche Erfahrungswelt der eigenen Vergangenheit einfühlen können. AZs Erzählung lebt vom Wissen, dass Menschen, die nicht seiner Generation angehören, all diese Arbeiten – von der samstäglichen Holzarbeit bis hin zum Dreschen des Getrei- des – fremd und vielleicht unvorstellbar sind. Weder wäre es sonst notwendig, die Arbeitsprozesse derart detailreich zu schildern, noch müsste der Erzähler betonen, dass es ums („nackte“) Überleben ging und man als Selbstversorger auch auf die kleinsten Ernten angewiesen war. Sowohl der Topos vom spezifischen Wissens der alten Generation, vielfach auch in Form von „Das weiß heute keiner mehr“ oder „Das wissen viele Junge nicht“, als auch die Schwerpunktsetzung auf Beschreibungen historischer und damit heute nicht mehr praktizierter Arbeiten in der Landwirtschaft, finden sich in fast allen 67 Interviews in ähnlicher Form wieder. Erzählungen von Subsistenzwirtschaft und in diesem Rahmen von anstrengenden, gefährlichen Arbeiten, die seit Jahrzehn- ten etwa aufgrund von Unrentabilität nicht mehr durchgeführt werden, basieren in ihren verschiedenen Ausprägungen doch auf derselben soziokulturellen Vor- lage: Das zentrale Thema all dieser Erzählungen ist im Kern die Gegenüberstellung von Alt und Neu, der Identitätsverlust durch Modernisierung und der Umgang des Individuums mit Wandel. Begleitet wird dieses Thema häufig von den oben erwähnten Topoi. 68 gedroschen. 69 Hörnerschlitten. 70 Dachboden. 71 Löffler: Zurechtgerückt. S. 97.
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Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Title
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Subtitle
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Publisher
StudienVerlag
Location
Innsbruck
Date
2013
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
Size
15.8 x 23.4 cm
Pages
464
Keywords
Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
Category
Geographie, Land und Leute

Table of contents

  1. Vorwort 11
  2. Einführung 13
  3. 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
    1. 1.1. Potenzial und Grenzen des biografischen Interviews 18
    2. 1.2. Entstehung und Funktion von Erinnerungen 22
      1. 1.2.1. Wahrnehmung 22
      2. 1.2.2. Kollektives, kulturelles, kommunikatives, autobiografischesGedächtnis 25
      3. 1.2.3. Erinnerung 29
    3. 1.3. Spezifika von Erzählungen im Rahmen lebensgeschichtlicher Interviews 31
      1. 1.3.1. Vom Erzählen zur Erzählung 32
      2. 1.3.2. Spezifika von Erzählungen im narrativen Interview 34
      3. 1.3.3. Spezifika lebensgeschichtlicher Erzählungen 35
    4. 1.4. Potenzial der Erinnerungserzählungen 42
  4. 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
    1. 2.1. Zur Entstehung des Quellenmaterials 47
      1. 2.1.1. Der Idealtyp des narrativen Interviews und die Praxis 48
      2. 2.1.2. Die Arbeit mit dem erhobenen Quellenmaterial 50
      3. 2.1.3. Statistischer Überblick über die biografischen Interviews 52
    2. 2.2. Erinnerungspraxis und Erzähltradition: Definition und Forschungsziel 55
      1. 2.2.1. Zur Methodik der Auswertung und Analyse 58
      2. 2.2.2. Zur Darstellung der Ergebnisse 60
  5. 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
    1. 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
    2. 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
    3. 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
    4. 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
      1. 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
      2. 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
      3. 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
      4. 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
      5. 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
      6. 3.4.6. Modernisierung 112
      7. 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
      8. 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
      9. 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
      10. 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
      11. 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
      12. 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
      13. 3.4.13. Autoritäten 183
      14. 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
      15. 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
      16. 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
      17. 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
      18. 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
      19. 3.4.19. Repressives NS-System 230
      20. 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
      21. 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
      22. 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
      23. 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
      24. 3.4.24. Gefangenschaft 263
      25. 3.4.25. Heimkehr 268
      26. 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
      27. 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
      28. 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
      29. 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
      30. 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
      31. 3.4.31. Kriegsende 301
      32. 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
      33. 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
      34. 3.4.34. Entnazifizierung 324
      35. 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
      36. 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
      37. 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
      38. 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
      39. 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
      40. 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
      41. 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
      42. 3.4.42. Liebe und Ehe 370
      43. 3.4.43. Geburt der Kinder 381
      44. 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
      45. 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
      46. 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
      47. 3.4.47. Naturkatastrophen 400
      48. 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
      49. 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
      50. 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
  6. 4. Zusammenfassung und Synthese 421
    1. 4.1. Erzählstoffe und Leitlinien 422
      1. 4.1.1. Die 50 Erzählstoffe einer Durchschnittsbiografie 424
      2. 4.1.2. Ein Leben geprägt von Wandel 427
      3. 4.1.3. Arbeit als Lebensthema 428
      4. 4.1.4. Männer- und Frauenerzählungen 429
      5. 4.1.5. Geschichtliches und Lebensgeschichtliches 430
    2. 4.2. Erzählstrukturen und -strategien: Rechtfertigung, Idyllisierung, Vergleich 432
  7. 5. Verzeichnisse und Nachweise 439
    1. 5.1. Liste der anonymisierten ZeitzeugInnen 439
    2. 5.2. Literaturverzeichnis 440
    3. 5.3. Internetquellen 454
    4. 5.4. Abbildungsverzeichnis 454
    5. 5.5. Ortsregister 458
    6. 5.6. Personenregister 461
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