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Abb. 5: Ackerbau in Gaschurn (Sammlung Friedrich Juen/Montafon Archiv)
Die nachfolgende Erzählung des 1932 geborenen WX kann die Übertragbar-
keit dieses Motivs auf verschiedene Themenbereiche gut veranschaulichen. WX
beschreibt hier die traditionell streng geregelte „Ziegenhut“, im Rahmen derer alle
Ziegen der BewohnerInnen eines Dorfteils an einen „Geißler“ übergeben wurden,
wobei dieser einem klar geregelten räumlichen und zeitlichen Ablauf zu folgen
hatte. WX war selbst in den Nachkriegsjahren einige Sommer lang „Geißler“ und
beschreibt diese Arbeit folgendermaßen:
WX: Wir haben ja damals Ziegen gehütet. Das weiß von den jungen Parte-
nern heute wahrscheinlich kaum jemand, wir haben drei so … hier herin-
nen hat man gesagt „Huat“, eine Ziegenhut, also eine Ziegenherde gehabt.
Da haben wir drei herinnen in Partenen gehabt bzw. zwei. Und zwar da
herinnen, das nennt sich Gufelgut, auf der Ill, auf der Seite. Das waren die
Gufelguter und auf der anderen Seite, das waren die Kilkener, also da waren
die Ziegenställe vom Dorfanfang bis da oben, da waren die letzten. Der ist in
die Richtung gegangen mit seinen Geißen. Wir sind da in die Richtung. Ich
wollt sagen, wir haben 130 Stück Ziegen gehabt, der da drüben, das weiß ich
nicht mehr. Ziegen unter Anführungszeichen. Da waren cirka 70 Ziegen, das
andere waren Böcke und, wie man sagt, „Leere“. Also, leere Zeitgeißen, also
die an und für sich geschlechtsreif waren, aber keine Junge gehabt haben und
dadurch auch keine Milch. Und eben auch die kleinen Kitze und Ziegen und
Böcke. […] Aber wir sind natürlich auch bis auf die Bielerhöhe raufgekom-
men. Ja, und wir haben da 70, 80 Stück gehabt. […] Und Schafe haben wir
da gehabt! Allein auf der Vallüla, da sind jetzt keine Schafe mehr. Die haben
zwischen 700 und 800 Stück Schafe gehabt und das war bei Kriegsende, na ja,
ich sag jetzt, fast ein Drama. Weil wir haben … da waren die Marokkaner –
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439