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100 bensstrategien entwickelten sich die jahrhundertelange Tradition der Saisonarbeit
der meist männlichen Familienmitglieder, der Verkauf landwirtschaftlicher und
handwerklicher Produkte und schließlich auch extreme Sparsamkeit. Die 1922
geborene KK beschreibt, wie alles, was die Landwirtschaft abwarf, genutzt wurde.
Einen wichtigen Arbeitsbereich stellte die Schafwolle dar:
KK: Dann hat man Schafe gehabt. Das war damals notwendig. Dann hat
man die Wolle gewaschen, und zuerst hat man es müssen selber kartatschen,
und dann hat es seine Kartatsche82 gegeben, wo es [unverständlich] wird und
… Kartatsche hat man das halt geheißen. Und dann hab ich die Wolle gespon-
nen.
I: Das war eine Arbeit im Winter, oder?
KK: Das war eine Winterarbeit. Die Wolle gesponnen und dann hat man
müssen Socken stricken draus, oder Pullover oder Jacken für die Männer. Die
Zeit ist immer ausgefüllt gewesen.
I: Wie viele Schafe haben Sie da damals gehabt?
KK: Ja, da haben wir sieben, acht Schafe gehabt.
I: Und die werden einmal im Frühling und einmal im Herbst geschert?
KK: Zwei mal, ja.
I: Und hat man da etwas verkaufen können auch, oder hat man das alles
selber aufgebraucht?
KK: Die Wolle hat man selber gebraucht. Später ist dann in Flirsch eine Fabrik
gewesen und da ist man dann mit der Wolle, mit gewaschener Wolle, hinüber,
und dann hat man einen Stoff gekriegt. Einen Loden. Oder im Oberinntal
drüben, in Ried im Oberinntal, ist dann auch eine Wollfabrik gewesen, da hat
es dann aber nur einfach-breiten Loden gegeben. Und den stärkeren, festeren.
Aber nur einfach-breit.
I: Aber das war erst später?
KK: Ja, das war da in den 1930er Jahren.
KK ist gebürtige Paznaunerin83, ihre Erfahrungen unterscheiden sich in Bezug auf
den bäuerlichen Zuerwerb allerdings nicht von jenen der MontafonerInnen. Von
der Wollproduktion bis zum fertigen Pullover wurde die Schafwolle innerhalb der
Familie weiterverarbeitet und ermöglichte ein zusätzliches Einkommen. Durch
den Verkauf der Wolle kam entweder Geld, oder aber durch das Eintauschen der
Wolle Loden ins Haus. In diesem Interviewausschnitt, in dem die Interviewerin
das Gespräch immer wieder anregen muss, berichtet KK vor allem auf der Sach-
ebene. Emotionaler wird sie hingegen gegen Ende der Beschreibungen alltäglicher
Arbeitsabläufe, als sie resümiert:
KK: Ich wünsch euch keine solchen Jahre. […] Das bin ich heute noch gewohnt,
das Sparen. Ich kann heute noch nichts wegwerfen. Ich krieg oft Schimpf,
82 auch: Handkrempel.
83 Das im Westen Tirols liegende Paznauntal grenzt im Silvrettagebirge direkt an das Montafon an.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439