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116 irgendwo jetzt in Afrika kommen würdest mit dem Auto. Da springen auch
die Kinder zusammen. Aber ich weiß nur einmal, das ist auch in Schruns,
das ist allerdings schon gewesen anno 38, oder 39, da ist schon der Umsturz
gewesen. In der Pause ist es gewesen, da ist das Gerücht umgegangen: Unten
in der Alpina ist ein Opel Kapitän, ein Opel Kapitän. Die ganze Schule, das
sind über 200 Kinder, mit einem Sturm, alles hinunter, zur Alpina, diesen
Opel Kapitän anschauen. [lacht] Da sieht man erst, wie sich das total verän-
dert hat.
Die beiden ErzählerInnen trennt in Hinblick auf ihr Alter eine ganze Generation
– und doch ähneln sich ihre Berichte sehr und verdeutlichen die Muster, die ihre
Erzählungen strukturieren. XX erzählt eine Geschichte von ihrem 1899 geborenen
Mann, bei dessen Beobachtung es sich offensichtlich um eines der ersten Autos im
Ort gehandelt hatte. In JJs Kindheitserinnerungen, also etwa 30 Jahre später, wird
bereits zwischen verschiedenen Fahrzeugmarken unterschieden. Der Rahmen der
Erzählungen sowie ihr werthaltiger Endpunkt sind jedoch – als beispielhafte Mus-
tererzählungen – ident. Beide zeichnen das Bild einer großen Menge Kinder, die
von der Schule weg in Richtung Auto stürmen. JJ zieht hier sogar einen Vergleich
mit „Kindern in Afrika irgendwo“ heran (obwohl er selbst niemals in Afrika war)
und reproduziert damit ein Bild und ein Klischee, das den Kontrast zwischen dem
Montafon seiner Kindheit und der heutigen Situation im Tal verdeutlichen soll.
Beide ErzählerInnen schließen mit demselben Topos in Form von „Das kann man
sich gar nicht vorstellen, wie einfach man früher wirklich gelebt hat“ und „Da sieht
man erst, wie sich das total verändert hat“ ab und machen damit die Intention ihrer
Erzählung klar: die Darstellung des unvorstellbaren Wandels im Laufe des 20. Jahr-
hunderts – bzw. innerhalb weniger Jahrzehnte.
Abb. 18: Gruppenfoto beim Straßenbau nach Gargellen 1936
(Sammlung Friedrich Juen/Montafon Archiv)
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439