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Der Erzählstoff des traditionellen Alltags umfasst derart viele Bereiche, dass inhalt-
lich nur Einblicke in die Bandbreite der Beschreibungen gegeben werden können.
Die nachfolgende Aneinanderreihung von fünf Interviewausschnitten soll einige
besonders repräsentative Ausschnitte, das heißt in verschiedenen Interviews ähn-
lich dargestellte Beschreibungen alltäglicher Arbeiten oder Situationen, vorstellen,
da die Vielfalt der Inhalte bestmöglich abgebildet werden soll.
XX ♀, geboren 1907:
XX: Wir haben früher nicht gefrühstückt, wie man heute frühstückt. Da
haben wir immer entweder Bratkartoffel gemacht oder eben so von Grieß oder
Mais, Maisgrieß. Hat man das gekocht, mit Milch angerührt und gekocht bis
es auseinander gefallen ist. Und das hat man dann gebacken, gemacht, geges-
sen am Morgen. Als Frühstück. Nicht Butter und Käs und Brot, wie heute.
Das hat man nicht gekannt. Oder man hat – wir sagen Mus – einen Grießbrei
gemacht. Also Milch hat man ja eigene gehabt. Wir haben Kühe gehabt, die
Milch gegeben haben, und da haben wir viel, viel auch mit Milch gekocht. Ach,
das ist … ich kann das gar nicht sagen, man hat sich einfach selber geholfen.
QR ♂, geboren 1942:
QR: Und zuletzt … Ja, wir haben da normal zwei Kühe gehabt, und ein Rind,
ein leeres Rind und ein Kalb. Das ist so der … dass immer wieder eines nach-
gekommen ist, dass man jedes Jahr ein Rind zum Verkaufen gehabt hat.
I: Und sonst auch noch kleinere Sachen?
QR: Ja. Alles mögliche. Hühner und Schafe und Ziegen. Und das ist ja frü-
her, ist das „Pifl“147, sagen wir dazu, das ist ja die Kühltruhe gewesen. Man
hat ja sonst kein Fleisch gehabt. Und von einem Kalb verkau… also halt ein
Kalb metzgern, dann musste man schon das Fleisch verkaufen und schauen,
dass man wieder das Notwendigste im Haus zu kaufen gekommen ist. Und
geschlachtet hat man hauptsächlich einen alten Widder und eine alte „Au“148.
Und die Jungen hat man leben lassen. Das ist ja dann wieder für die Zucht
gewesen. Und das ist das einzige … das Fleisch hat man dann halt in einen
Presseimer hinein getan. Eingesalzen und in einen Presseimer hinein, dass es
halbwegs haltbar gewesen ist. Und wenn irgendetwas … hat man auch etwas
davon geräuchert. Dort sind auch Einzelne gewesen, wo jetzt … nehmen wir
an, auch Schaffleisch geräuchert haben. Halt jedes Mittel, dass es ein bisschen
haltbar gewesen ist. Und das ist, wie gesagt, das ist die Kühltruhe gewesen.
Heute ist das überhaupt kein Problem. Wenn man eine Kühltruhe hat, kann
man das hinein tun. Das hat bei den Hühnern schon angefangen. Ein altes
Huhn, hat man doch nie, auf Deutsch gesagt, dem Fuchs gerichtet, wie man es
heute macht. Die hat man gerupft und ausgemetzgert, und das ganze Huhn
147 Kleinvieh.
148 Mutterschaf.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439