Page - 133 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Image of the Page - 133 -
Text of the Page - 133 -
133
JJ ♂, geboren 1927:
Man muss sich vorstellen, die Schule damals … Ja, ja, ich habe eh schon
gesagt, was sich in diesen dreißig Jahren alles geändert hat. Und auch bei der
Schule. Zum Beispiel da ist drangebaut gewesen so ein hölzerner Anbau. Da
sind die „Platschklos“151 gewesen. Da hat es doch nirgendwo ein WC gegeben
mit Wasserklosett. Und die sind immer verbrunzt und verschissen gewesen.
„Brönzalat“152 hat es schon von weither. Aber es ist auch … da sieht man sel-
ber schon, das ganze Leben ist etwas anderes gewesen. Es hat doch kein Bub
damals eine Unterhose angehabt. Es hat kein Mädchen eine Unterhose ange-
habt. Das hat es einfach nicht gegeben. Die Mädchen sind halt auch auf die
Seite hinaus gestanden beim Völkerball und haben schnell … und haben es
„tschudera“153 lassen. So ist es halt gegangen. Aber da hat sich niemand etwas
draus gemacht zu dieser Zeit.
DD ♂, geboren 1945:
Und in der Schulzeit, wenn Winter war, ist kein Schneepflug gefahren. Da
musste man einfach durch den Schnee durchstapfen. Mein Vater hatte ein
Fuhrwerk für den Winter – der hat so einen Schneepflug gemacht den die
Pferde nachgezogen haben, da ist er so hin und her gewackelt und ist über
die Straße gefahren. Und nachher ist er dann öfters raus gefahren in den
Ort, nach Tschagguns, dass wir leichter in die Schule gefahren sind. Weil er
das öfters gemacht hat, hat man am Gemeindeamt vorgeschlagen, wenn er
immer mit dem Pflug hinausfährt, sollte man ihm einmal was geben dafür.
Dort wurde dann abgestimmt, ob man das tun sollte oder nicht. Und dann
ist die Wortmeldung gewesen, das ist nicht notwendig – wenn sie wegen dem
vielen Schnee nicht rauskommen, dann sollen sie halt daheim bleiben. Stell
dir das einmal vor, die Zeiten und wie sich das verändert hat. Dass so ein
Fuhrwerk nicht … ja. Und dann weiß ich noch, weil da ist man nirgends mit
dem Schneepflug gefahren. Und natürlich wohnten ja auch Leute auf dem
Berg oben, wie Mauren, Bitschweil, weißt du was die gemacht haben? Die
haben das Vieh rausgelassen und hatten eine vorgetrieben und die anderen
alle nach, dass es so einen Pfad gemacht hat. Das hat man öfters gemacht, ja,
das weiß ich noch gut. Das ist heutzutage ja unvorstellbar. Und dann weiß
ich noch, einmal ist unser Vater mit uns mit dem Schlitten nach Bludenz auf
den Markt gefahren. Er hat da Holz verkauft, Holzmaterial, er hat trocke-
nes Holz verkauft. Stell dir vor, mit dem Schlitten bis nach Bludenz, dann
Schneefahrbahn und bis rein wieder da her. Ich will nicht sagen, dass es früher
mehr Schnee hatte, weil man nicht gepflügt hat. Aber es kann vielleicht kälter
gewesen sein, dass der Schnee nicht so schnell weggeschmolzen ist. Heute wird
151 Plumpsklo.
152 nach Urin gestunken.
153 laufen, plätschern.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439