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138 I: Ist der Nikolaus gekommen?
CD: „Dr Klos“156, ja, der Nikolaus, ja der Nikolaus. Ja das ist ein bisschen inte-
ressant. Der Nikolaus ist am 6. Dezember. Und dann, da hat es noch keinen
Krampus gegeben bei uns. Da hat es nur einen Knecht Ruprecht gegeben. Das
ist ein verkleideter Mann gewesen mit einem Mordsbart, und einem Man-
tel, und der hat den Rucksack getragen, oder den Korb, für den Nikolaus.
Aber der Name „Klos“, der hat noch viel mehr an sich. Der ist nicht nur am
6. Dezember gekommen. Der konnte das ganze Jahr gehen. Und wenn du
herum gehört hast, unter den alten Montafoner Frauen, dann hat es gehei-
ßen, wenn man eine gesehen hat, in anderen Umständen: da kommt auch der
„Klos“, hat es geheißen. Oder: „dia tuat klosna“ Und das ist eigentlich heute
als Gespräch unter den Montafonern verschwunden. Du hörst, man sagt nur:
die Frau ist in anderen Umständen, oder sie ist schwanger. Das „schwanger“
hast du früher nicht gehört. Da hat es nur geheißen: „dia tuat klosna.“ Und
wir Buben haben nie gewusst, was das ist, was das zu bedeuten hat an einer
Frau, der „Klos“. Bis wir dann, wenn halt wieder ein Geschwisterchen auf die
Welt gekommen ist: „dr Klos hot’s brocht“157. Und der konnte mitten unter
dem Jahr kommen, nicht nur am 6. Dezember. Das ist auch noch interessant,
oder, dass man das weiß, dass das so gewesen ist.
Abb. 24: Besuch von Nikolaus und Krampus (Sammlung Bruno Hueber/Montafon Archiv)
Der Hinweis auf den sprachlichen Gebrauch der Nikolaus-Figur ist nicht nur inte-
ressant, weil er in eine Vorstellungswelt einführt, in der die Geburt eines Kindes
übers ganze Jahr, quasi als Geschenk, vom „Klos“ beschert wird. Auch die Tatsa-
che, dass der Nikolaus zumindest in sprachlicher Form abseits des 6. Dezember in
Aktion treten konnte, verweist auf eine Vermischung verschiedener Bräuche. Dies
wird am nachfolgenden Ausschnitt deutlich, in dem der 1910 geborene TG nach
dem Weihnachtsfest gefragt wird und zunächst vom Christkind, später aber vom
156 der Nikolaus.
157 Der Nikolaus hat’s gebracht.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439