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Nikolaus spricht. Verschiedene ZeitzeugInnen berichten, ähnlich wie TG, dass
das Christkind erst Anfang des 20. Jahrhunderts Einzug in die Weihnachtsbräu-
che im Montafon hielt. Volkskundliche Untersuchungen zeigen, dass der Nikolaus
in vielen österreichischen Regionen bis in die späten 1950er Jahre die wichtigste
gabenbringende Brauchgestalt für Kinder darstellte.158 Bis zur Ablösung der Niko-
lausfigur als Geschenkbringer durch das Christkind Mitte des 20. Jahrhunderts
wurde anlässlich des Weihnachtsfestes kaum beschenkt. TG bezieht sich in seiner
Erzählung eingangs auf die Armut, die er als Halbwaise mit mehreren Geschwis-
tern in der Kindheit erlebte:
TG: Das haben wir schon gemerkt, dass wir ein bisschen weniger Sachen
bekommen haben, zu Weihnachten, als die anderen Nachbarkinder, wo Väter
gehabt haben.
I: Was habt ihr denn bekommen? […]
TG: Vom Christkind? Griffel oder eine Federschachtel oder ein Heft oder
ein Lesebuch, was man halt in der Schule gebraucht hat. Und dann hat es
auch goldene Griffel gegeben. Ojässas. Am anderen Tag hat jeder einander
erzählt: „Was hat dir der Nikolaus gebracht? Mir hat er heuer einen goldenen
Griffel gebracht.“ Einen goldenen Griffel. Ist ja das gleiche Material gewe-
sen, aber mit Gold angestrichen gewesen, gelb. Das ist ja ein Schatz gewe-
sen, ein goldener Stift. Wahnsinnig. Ja. Und Hemdenstoff. Die Mama hat für
die ganzen Kinder … Im Winter hat sie Wolle gesponnen, das Vieh gefüttert,
Wolle gesponnen, die Schafe geschoren, Wolle gewaschen, Wolle gesponnen.
Alles selber. Und die Mädchen sind dann in die Schule. Und die haben dann
Strümpfe gestrickt, aus dem Garn. Und solche Ding … solche Blusen in der
Schule gelernt zu machen. Weiße Blusen und einen Halbrock. Und dann sind
sie [unverständlich] gewesen im Sommer. Hosen hat man keine gekannt im
Winter. [unverständlich] Unterhosen. Wir haben in der Schule den Mädchen
immer ins „Födla“159 gesehen, wenn man auf den Bäumen herumgeklettert ist.
Ja. Da hat niemand umgeschaut, kein Mensch hat „Wondr ghet ab ama so a
Födla“160, von einem Mädchen. Nur ist es uns dann komisch vorgekommen,
dass „dia Koga“161 immer niedersitzen müssen beim „sächa“162. [lacht] Das ist
uns lange spanisch vorgekommen, warum setzen „dia Koga“ sich denn immer
hin? Das hätte ich ja nicht sagen sollen. Das musst du halt herausstreichen.
Gerade jene Passagen, zu denen die ZeitzeugInnen anmerken, man könne oder
solle sie herausstreichen, gewähren meist besonders interessante Einblicke in per-
sönliche Erfahrungswelten sowie Wert- und Normvorstellungen. Auch aus diesem
158 Wallnöfer, Elsbeth: Geraubte Tradition. Wie die Nazis unsere Kultur verfälschten. Augsburg
2011. S. 88.
159 Hintern.
160 sich für so einen Hintern interessiert.
161 Fratz, ungezogenes Kind.
162 urinieren.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439