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150 gen. In diesem Zusammenhang häufen sich Erzählungen, in denen ausgefrorene
Gliedmaßen nach der einstündigen morgendlichen Messe in der eiskalten Kirche
oder auch der beschwerliche Weg durch den Schnee hin zur Kirche beschrieben
werden. Der 1941 geborene LM schildert nachfolgend eine wichtige soziale Funk-
tion des sonntäglichen Kirchgangs in der traditionellen Gesellschaft, nämlich die
Gespräche auf dem Platz vor der Kirche. Diese Beschreibung ist beispielhaft für
zahlreiche andere Erzählungen, weshalb die Darstellung des 1945 geborenen DD
zum selben Thema gleich anschließend gegenübergestellt werden soll:
LM ♂, geboren 1941:
I: Ja. Hat sich da einiges geändert, also abgesehen davon, dass früher mehr in
die Kirche gegangen sind, jetzt weniger, auch sonst vom religiösen Leben her?
Von deiner Kindheit zu jetzt? Weiß ich, so Prozessionen oder – ja, hat sich das
irgendwie geändert?
LM: Das Brauchtum der Kirche hat sicher weit weniger Bedeutung wie früher.
Früher ist man natürlich auch eher der Tradition verpflichtet gewesen. Weil
da hat es nichts anderes gegeben, sagen wir es so. Wenn ich keinen Fernseher
gehabt habe und nichts. Die Sonntagsmesse ist auch ein … weil ich gesagt
habe, ich weiß noch, als Ministrant ist man dann mit der Opferbüchse noch
vor die Kirche hinaus gegangen, um zu kassieren. Heute muss man nicht mehr
hinaus, weil niemand mehr draußen ist. Aber früher sind da fünfzehn oder
zwanzig Leute beieinander gestanden, und haben halt vom – was weiß ich
– von jedem Quadratmeter Grund oder vom Viehhandel und alles Mögli-
che, hat man am Kirchenplatz getroffen. Sonst ist man die ganze Woche auf
der Landwirtschaft gewesen. Sagen wir einmal der Großteil, was nicht sonst
auswärts gewesen ist. Aber in der früheren Zeit ist das der einzige Treffpunkt
gewesen, wo man sich gegenseitig Meinungsaustausch gemacht hat und so
weiter. Und dass früher natürlich, wo man mehr noch von der Natur abhängig
gewesen ist, zum Großteil die Frage der Bitttage, wo es dann gegeben hat, die
Prozessionen, früher ein Haufen Leute mitgegangen sind. Heute geht ja fast
niemand mehr. Oder Fronleichnamsprozession und früher ist man rund ums
Feld gegangen, segnen, das tut man, ich glaube in der Innerfratte auch, oder?
Christi Himmelfahrt. Da ist man mehr auf das angewiesen gewesen. Heute
meint jeder, den Zahltag bekomme ich, oder die Pension bekomme ich aufs
Konto, und das Auto habe ich, pfff.
DD ♂, geboren 1945:
DD: Und die Spätmesse ist sowieso nur grad für die Ding gewesen, dazumals
eigentlich hauptsächlich für die Kommunikation des Ortes. Ich weiß noch,
wie man nach der Messe auf dem Kirchplatz stehen geblieben ist. Dann war
man oben, die hat das Fenster aufgemacht und hat das Neueste vorgelesen.
Das war eigentlich das Blatt der Gemeinde. Und freilich auch die Kommuni-
kation, dass du mit dort da und da helfen könntest, hat man das so. Oder ein
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439