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Die 1926 geborene WD war Vollwaise und wurde mit ihren Geschwistern und
einigen anderen Kindern unter schwersten Bedingungen von ihrer Großmutter
aufgezogen. Für WD ist Armut, wie an anderer Stelle bereits herausgearbeitet
wurde, eine der wichtigsten Leitlinien in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung.
Sie führt nicht nur ihren Lebensweg, sondern auch alle Prägungen, die sie an sich
selbst feststellt, auf die Erfahrung der Armut zurück:
WD: Wenn man niemand hat, dann lernt man alles. Dann lernt man still
sein, das Maul halten. Nicht immer. Wo’s nötig ist, nicht oft. Heute halte ich
es nicht mehr so oft. Heute bin ich alt genug, sage ich immer. Heute sage ich
manchmal das, was ich früher nicht gesagt hätte. Aber, das lernt man, wenn
man allein ist und eine harte Jugend hat. Wie man muss durch’s Leben gehen,
und wie man jedes Knöpfli, und jedes Gräsli … und aus jedem Bröckli Brot
eine Suppe machen kann, was man heute tonnenweise verwirft. Das kann ich
heute noch nicht. Die Ahna hat immer gesagt: „Jedes Bröckli Brot, das ihr fin-
det, müsst ihr aufnehmen und küssen.“ So sind wir aufgezogen worden. Ja, ja.
WDs Resümee erinnert stark an die weiter oben angeführte Aussage der 1922
geborenen KK, die betont, sie könne heute noch nichts wegwerfen, obwohl sie ihre
Nachkommen darob schimpfen würden. Neben KK und WD greifen auch zahl-
reiche andere ErzählerInnen dieses Thema auf, sodass der Hinweis auf die eigene
Unfähigkeit, etwas wegzuwerfen – gerade in Gegenüberstellung zu in der heutigen
Wegwerfgesellschaft üblichen Praktiken – durchaus als Topos bezeichnet werden
kann.
Weitere Faktoren, die die ZeitzeugInnen als Erklärung für die Armut in ihrer
Kindheit heranziehen, sind Wirtschaftsweise und Tradition. Familien mit teils
großer Kinderzahl mussten aufgrund der durch die Tradition der Erbteilung sehr
kleinstrukturierten Landwirtschaften von einigen wenigen Wiesen und Feldern
und zwei, drei Kühen leben. Auch im Falle, dass die Väter zusätzlich bei einer
Firma oder in einer Fabrik arbeiteten, reichte das Erwirtschaftete oft nur knapp.
Die Erzählung des 1930 geborenen BB wird hier stellvertretend für viele andere
gleichwertige Schilderungen angeführt:
BB: Ja, ich bin der Fünfte von acht Jungs. Und gemessen an der heutigen Zeit,
waren es eher Armutsverhältnisse. Der Vater war bei der Wildbachverbauung
beschäftigt, später dann bei der Krauthobelfabrik und, ja, es waren eigent-
lich … [räuspert sich] Zuhause hatten wir eine kleine Landwirtschaft. Dann
haben wir noch ein kleines Bergmahd dazugemietet. Und dann haben wir
zwei Kühe gehabt. Während des Krieges – waren zwei gute Kühe – konnte
man noch etwas schwarz Butter machen. Und durch die Landwirtschaft hatte
man noch eigene Kartoffeln, man hat Weizen gehabt. Man hat Hühner …
Jedes Jahr im Herbst hat man ein Schwein selber geschlachtet und so haben
wir uns über die Runden gebracht.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439