Page - 160 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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160 seien, die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Armut und Isoliertheit
mancher Familien.
In ihren rückblickenden Erzählungen wenden sich die ZeitzeugInnen, abgesehen
von Erzählungen über den Verlust der Eltern und die kleinstrukturierten ärmli-
chen Landwirtschaften, kaum je den Ursachen der Armut in der Kindheit zu, son-
dern thematisieren vor allem die Auswirkungen der Armut in ihren vielfältigen
Aspekten. Einige dieser alltäglichen Aspekte von Armut sollen nachfolgend am
Beispiel mehrerer Erzählungen aufgezeigt werden:
BD ♂, geboren 1927, erzählt von Hunger:
BD: Meine Frau wohnte im Gemeindeamt, dort habe ich sie kennengelernt.
Als sie die Lehre begonnen hatte, lief sie jeden Tag bei mir vorbei. In der Kirche
habe ich sie auch öfters gesehen. Sie stammt nicht aus einer Wohlstandsfami-
lie. Die Mutter wusste oft nicht, aus was sie etwas kochen könnte. Wenn sie
aus dem Haus gegangen ist, hat sie zwei Stücke Brot in den Mund genommen,
damit sie vollere Backen bekam, weil sie so mager war.
UU ♂, geboren 1924, erzählt von häufigen schweren Krankheiten:
UU: Ja, gesamt waren sechs Kinder, aber drei sind gestorben. Zwei Schwestern
sind noch mit mir aufgewachsen. Eines ist fünfjährig an Diphtherie gestorben.
Und Zwillinge waren zuletzt noch. Der eine ist ein halbes Jahr alt geworden,
der Bub, und der andere eineinhalb Jahre. Und die Mama ist dann krank
gewesen und hat ins Spital müssen. Die Großmutter hat dann immer auf uns
aufpassen müssen. Damals hat man keine … ja, Krankenkasse, ich weiß nicht
ob der Vater, aber ich glaub nicht, dass er da krankenversichert war im Holz.
I: Na, wahrscheinlich nicht.
UU: Ich glaub’s nicht. Auf jeden Fall weiß ich dann, dass mit dem Doktor
Walser, so hat der geheißen, der hat die Mama gesund gemacht. Und da hat
man halt zahlen müssen. Der, der Geld gehabt hat. Aber die sind beide ziem-
lich robuste Burschen gewesen, der Vater und der Doktor. Die haben dann
ziemlich laut geredet miteinander, wenn sie nicht die gleiche Meinung gehabt
haben.
KL ♀, geboren 1929, erzählt von den schlechten Wohnstandard in den alten Häu-
sern:
KL: Der Winter ist dann aber auch ziemlich hart gewesen. Der Kachelofen
und der Sparherd, das ist alles gewesen, was wir gehabt haben zum Heizen.
Man hat dann halt einen Ziegel in den Herd, in den Ofen, ins Rohr, ins Back-
rohr hinein gegeben und so ist man dann ins Bett gegangen.
IJ ♂, geboren 1924, erzählt von Schulden auf den Höfen:
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439