Page - 161 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Image of the Page - 161 -
Text of the Page - 161 -
161
IJ: Und mein Vater hat erst verhältnismäßig spät geheiratet, der war schon
älter. Der hat 1918 geheiratet und er war Jahrgang 79. Also, der war damals
auch schon älter, der war damals schon … 38 Jahre alt. Aber es war früher so,
man musste ja früher zuerst mal wissen, wo hab ich eine Bleibe, wo kann ich
eine Familie aufziehen. Er stammt ja auch aus einer Familie mit elf Kindern,
nicht. Dadurch war es nicht so einfach. Bis man dann irgendwo ein Anwesen
erwerben konnte … Es wurde ja immer wieder gekauft und verkauft. Und die
meisten Anwesen hatten damals, das hat auch mein Vater noch erzählt, die
wurden mit Schulden verkauft. Auf den Anwesen waren fast überall Schul-
den, grundbücherlich eingetragene Schulden dabei, die mit dem Kauf über-
nommen wurden. Ein Teil war im Kaufpreis, das andere waren die Schulden,
die man natürlich auch verzinsen musste, da oder dort oder wie es war. Es
gab einzelne Leute, den Sägewerkbesitzer oder irgendwen, der im Ort zu den
Reichen gehörten. Alle anderen waren einfache Bauern. Oder ich glaub, wenn
jemand im Ort ein Pferd hatte, dann war es schon eher ein reicher Bauer.
Gelt, die anderen hatten wieder ein Ross. Dann hat man wieder eine Kuh
eingespannt als Zugtier, zum Karren oder Heu Ziehen oder Mist Ausführen
oder je nachdem wie es war.
XC ♀, geboren 1926, erzählt von der ärmlichen Bekleidung:
XC: Bekleidet waren wir mit einem Kleid und einer Strickjacke. Hosen haben
wir nicht gehabt. Dazu genagelte, hohe Schuhe. Auf der Straße lagen immer
Nägel. Im Winter haben wir gefroren. Warme Kleidung wie heute gab es
damals nicht. Aus Schafwolle haben wir gestrickte Strümpfe gehabt. Die Wolle
wurde meistens selbst verarbeitet. Nach dem Schafe scheren wurde die Wolle
gewaschen, dann auf dem Spinnrad gesponnen. Das war für die Frauen Win-
terarbeit. Ich habe es einmal probiert, aber nichts hergebracht. Meine Mama
hat das können. Der alte Willi war Schuster und ging herum und richtete
die Schuhe bzw. stellte neue Schuhe her. Vom Frühjahr bis Herbst liefen wir
gewöhnlich barfuß.
TG ♂, geboren 1910, erzählt von kargen (Weihnachts-)Festen:
TG: Ja, ja, schöne Zeit. Wir haben keine Ahnung gehabt, dass wir arm gewesen
sind. Nichts gemerkt. Nichts. […] Weihnachten, andere haben immer einen
Christbaum gehabt, die Nachbarn. Und wir halt keinen. Jetzt, weil ich größer
gewesen bin, habe ich dann auch einen Christbaum in die Stube gestellt, und
gemeint, das Christkind sollte auch etwas bringen und drauf tun. Und da ist
der Zettel drauf gewesen, auf diesem Christbaum: „Der Nikolaus“ – früher
hat man gesagt: „dr Klos“. „Der Nikolaus ist arm“. Das ist alles gewesen, was
auf dem Christbaum gewesen ist. Der Baum ist am Morgen gewesen, wie ich
ihn am Abend aufgestellt habe.
I: Nichts?
TG: Das haben wir schon gemerkt, dass wir ein bisschen weniger Sachen
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439