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Maisäß, um dort den Alten zu helfen, und mussten so täglich zur Schule große
(Höhen-)Distanzen zurücklegen.
Ein weiterer zentraler, und vor allem in den lebensgeschichtlichen Erzählun-
gen beliebter Einsatzbereich für Kinder und Jugendliche war die Hirtenarbeit. Der
1934 geborene CD erzählt besonders ausführlich von seiner Arbeit als Ziegenhirte
und fasst mehrere Aspekte zusammen, die in anderen Erzählungen nur angedeu-
tet werden. Aus diesem Grund soll CDs Erzählung hier zur Gänze wiedergegeben
werden:
CD: Ja, ja, dann sind dann die Jahre so vergangen. Und im Jahr 44 ist dann
bei uns ein Mann gekommen aus der Parzelle Mauren in Tschagguns. Und
sagt zu meinem Vater: „Du AD, du hast ein paar Buben. Könntest du mir
nicht so einen Bub geben, um Ziegen zu hüten?“ Und da sagt er: „Ja, ja, die
sind alle noch zu jung. Die sind noch nicht so alt.“ Ich bin 10-jährig gewesen.
Und dann sagt der Mann, der Fridolin Vonier: „Doch, doch, CD, der wäre
gut genug für mich da, also den wenn du mir …“. Und dann sagt er: „Ja, der
muss noch nicht. Ich kann ihn daheim auch brauchen.“ Und ich als Bub: „Ja,
das wäre jetzt etwas wirklich vielleicht Schönes.“ Habe gar nicht gewusst, was
auf mich zukommt. Und ich habe da zugesagt. Und dann sagt er: „Bub, aber
jammer mir dann ja nicht im Sommer, „es verdlädat dr“208 und so. Wenn man
zusagt, dann muss man auch bleiben.“ Jetzt bin ich mit zehn Jahren in die
Mauren hinein, am 1. Mai, und musste da zwischen 90 und 100 Ziegen über-
nehmen. Und im Frühling ist man auch auf der „Murner Alma“209 gewesen.
Dann ist man weiter hinauf, in diese „Blaika“210 und Nadeln hinauf. Und ich
bin auch da noch nicht grad so ein Klettermax gewesen wie heute. Und ich
habe dann oft zu tun gehabt, dass ich diesen Ziegen nach gekommen bin „i da
Schröfa doba“211, besonders am Abend, wenn ich wieder „zietli“212 herunter
sein musste. Und später, wo dann die Alpen frei gewesen sind, ist man dann
ins Gweil, ins Außergweil, und auch auf die Alpe Hora hinauf. Und das ist ein
täglicher Fußmarsch gewesen von zweieinhalb Stunden hinauf, und zweiein-
halb Stunden am Abend wieder herunter. Und zwar musste man mit diesen
Ziegen ganz ruhig laufen am Abend herunterwärts, sonst hätten sie die Milch
verloren, wenn man die gejagt hätte. Hätte es ihnen aus den Eutern heraus
geschlagen. Und dann musste man eben „höfili go met na“213. Aber das ist das
Wenigste gewesen. Wenn ich hinauf gekommen bin ins Gweil, dann hat es
geheißen: „Weißt du schon, was du zu tun hast, Bub?“ Dann musste ich in den
Stall und von 60 Kühen den Mist hinaus räumen. Und dafür habe ich eine
Kaffeetasse voll „Schlegmilk“214 bekommen. Und Fleisch habe ich den halben
208 dass dir die Freude dran vergeht.
209 Maurener Alme; Dorfweide in Mauren.
210 steile Wiese.
211 in den Felsen oben.
212 pünktlich.
213 ruhig mit ihnen gehen.
214 Buttermilch.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439