Page - 168 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Image of the Page - 168 -
Text of the Page - 168 -
168 Sommer lang ganz selten gesehen. Das ist eine Rarität bei mir gewesen. „Und
i hett a so an Omr ghet.“215 Die haben da Wildfleisch gegessen, oben, Gams-
fleisch. Und ich habe dann so „ömrig“216 in diese Pfanne hinein geschaut,
wenn das so „g’sprutzlat hot“217, da drinnen. Und ich habe auch einen Hunger
gehabt, dass er mir zu den Augen heraus geschaut hat. Und dann, das Ärgste
ist oft am Abend wieder gewesen, wenn du herunter gekommen bist, musste
ich hin und wieder zu Fuß bis nach Schruns heraus. Ich habe da heraußen
die letzten Leute gehabt, und zwar musste ich auf die „Rot“218 gehen. Wenn
jemand drei Ziegen gehabt hat, habe ich drei Tage bei dieser Familie schlafen
müssen. Und die mussten mich drei Tage lang verpflegen. Und da bin ich zu
Fuß von der Mauren, also aus dem Gweil herunter. Und am Abend dann zu
Fuß nach Schruns. Und dann musste ich aber am Abend noch zuerst Kar-
toffeln schälen, sonst habe ich am Morgen kein Frühstück bekommen. Und
am Morgen musste ich halt um sechs Uhr auf, und schon wieder in die Mau-
ren hinein laufen und dann wieder ins Gweil hinauf. Und dann im Gweil
oben hat mich dann halt wieder das Gleiche erwartet, als Bub, musste ich
wieder helfen. Und dann, diese Ziegen sind nicht immer im Gweil geblieben,
sind mir hin und wieder auf die Alpe Hora hinaus. Und dann bin ich auf die
Hora hinaus. Dann hat mir dort der Hirte „z’Läd g’set“219. Hat er gesagt: „Du
musst mir helfen hüten, nicht immer den Gweilern drinnen und so.“ Ich bin
da immer ein bisschen in der Zwickmühle gewesen als Bub, und habe nie rich-
tig gewusst, wie ich es Recht habe. Und ja ja, eben das Essen ist rar gewesen.
Ich habe also schlechte Sommer gehabt. Nicht dass die Leute geizig gewesen
wären, sie haben es selber nicht gehabt. Sie konnten mir nichts geben, weil sie
selber auch nicht viel gehabt haben. Es sind einige gewesen, ja, die haben …
Früher hat man dann halt oft gesagt: „För a Gäßler isch as guat gnuag.“220
[lacht] Und mit dem habe ich halt leben müssen, und habe es auch überlebt.
[…] Ja, ich war ein schwacher Schüler. Eingeschult gut. Habe von Anfang an
sehr gut gelernt. Ich habe ein gutes Fräulein gehabt. Aber ab 44 bin ich am 1.
Mai von der Schule fort gekommen, und bin erst am 10. Oktober wieder vom
Ziegenhüten gekommen. Und das bis zu meinem Schulende.
Von kulturhistorischem Interesse ist in diesem Ausschnitt besonders der Hinweis
auf die „Rot“, im Rahmen derer dem Ziegenhirten ein gewisses Maß an Kost und
Logis pro gehütetem Tier zustand und die ein heute weitgehend unbekanntes Teil-
system der traditionellen Berglandwirtschaft darstellte.
215 Und ich hätte so eine Lust darauf gehabt.
216 voll Verlangen; mit Gusto.
217 gebrutzelt hat.
218 Rot, die: Organisationssystem zur Abgeltung der Ziegenhut. Für jedes Tier hatte der Ziegenhirt
das Recht auf ein bestimmtes Ausmaß an Kost und Logis bei den ZiegenbesitzerInnen. Die Inan-
spruchnahme dieses Rechts wurde als „Rot“ bezeichnet.
219 geschimpft mit mir.
220 Für einen Ziegenhirten ist es gut genug.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439