Page - 171 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Image of the Page - 171 -
Text of the Page - 171 -
171
Meine Schwester kam ins Tirol, ich nach Bludenz. Ich kam in ein Haus beim
Spritzenbau, dort habe ich die Hölle auf der Welt erlebt. Die hatten zwei Mäd-
chen im Volksschulalter. Zu dieser fremden Frau musste ich Mama sagen und
sie immer auf den Mund küssen.
QR ♂, geboren 1942:
QR: Damals hat sie Probleme gehabt, weil sie mich ledig gehabt hat, ist das
schon ein Mordsproblem gewesen. Eine mit einem ledigen Kind hat man
schon schief angeschaut. […] Ja, ja, und dann haben wir am Kristberg drin-
nen noch einen Maisäß. Und da musste sie halt im Herbst und im Frühjahr
auch hinein, auf diesen Maisäß, mich mitnehmen. Mich hat man halt dann
in einen „Bara ihigschoppat“221, wenn ich keine Ruhe gegeben habe [lacht],
während dem Füttern. Und so ist das da gegangen.
ST ♂, geboren 1926:
ST: Und so, sagen wir jetzt, wenn ich jetzt vergleiche, wo meine Kinder in
den Kindergarten gegangen sind, diese unterschiedliche, grundsätzlich ganz
andere Kindergartenarbeit wie damals. Die Klosterschwester ist streng
dagesessen. Da sitzen musste man, und das mussten wir malen, und das
mussten wir machen, und beten, hinsetzen, aufstehen, beten, noch einmal.
Sagen wir so gar nichts Liebes oder etwas Fröhliches oder so. Kindergartenzeit
habe ich nur als ernste Erziehungszeit in Erinnerung, als strenge Zeit.
OLs Erzählung ähnelt den Erzählungen anderer (Halb-)Waisen, wie sie ja im Kapi-
tel zur Armut bereits angesprochen wurden, insofern, als auch sie die erschwerten
Bedingungen als Kind ohne Eltern beschreibt. Die Heimatlosigkeit und Minder-
wertigkeit, die sie dabei in ihren ersten Lebensjahren erfuhr, klingt auch in ihrer
weiteren lebensgeschichtlichen Erzählung an vielen Stellen deutlich durch. OLs
Erzählung zeigt deutlich auf, dass Kinder ohne Eltern einen benachteiligten Platz
in der Gesellschaft und somit auch einen erschwerten Start in ein Leben als gleich-
wertiges Mitglied einer Gemeinschaft hatten. Aufgrund der hohen Waisenquote
unter den Befragten ist OLs Darstellung, wenngleich besonders berührend, doch
repräsentativ für andere ErzählerInnen.
QR spricht im obigen Ausschnitt über seine Kindheit als „lediges“ Kind zwei-
erlei Aspekte an. Einerseits wurde seiner Mutter von vielen Seiten mit großer Into-
leranz begegnet. Wenngleich ein unehelich geborenes Kind keine Seltenheit war,
dringt aus QRs und vielen anderen Erzählungen doch durch, dass ein „lediges“
Kind zu haben von einem Teil der Bevölkerung im Tal auch Mitte des 20. Jahr-
hunderts noch kritisiert wurde. Zur erschwerten sozialen Situation kam für QR
und seine Mutter andererseits die prekäre finanzielle Situation hinzu, die die Mut-
ter zwang, auch Arbeiten anzunehmen, die mit der Versorgung eines Kleinkin-
221 in einen Viehstall hineingesteckt.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439