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172 des wenig kompatibel waren. Aus diesem Zwang entstanden für das Kind wenig
erfreuliche Situationen, wie sie QR abschließend beschreibt: Die Mutter sperrte
das Kind in einen Viehstall, um es sicher und an Ort und Stelle zu wissen.
Im dritten und letzten Ausschnitt wird am Beispiel der Erzählung von ST
der Wandel im Umgang mit Kindern aus pädagogischer Sicht angesprochen. ST
beschreibt die wenig kindgerechte Betreuung, die er selbst im Kindergarten in den
1930er Jahren erfuhr. STs Erzählung ist, insofern als sie die Situation in Kinder-
gärten thematisiert, wenig repräsentativ für die Erzählungen der meisten Mon-
tafonerInnen, da kaum eine andere Gewährsperson damals einen Kindergarten
besuchte. Einige ZeitzeugInnen sprechen allerdings den Wandel in der Pädagogik
am Beispiel ihrer Schulerinnerungen an und erzählen, ähnlich wie hier ST, von
wenig kindgerechten Praktiken der LehrerInnen.
Der Erzählstoff der „harten, arbeitsamen Kindheit“ wird in verschiedenen Spielar-
ten in die lebensgeschichtlichen Erzählungen eingeflochten. Vom nachmittagfül-
lenden Mithelfen am elterlichen Hof und dem Fernbleiben-Müssen von der Schule,
über die Arbeit in Betrieben während den Ferienwochen, bis hin zur sozialen Ein-
samkeit oder der Härte, die in pädagogischen Einrichtungen erfahren wurde, sind
die Erzählungen auf deskriptiv-inhaltlicher Ebene sehr vielseitig und informativ.
Die Erzählmotivationen oder auch die Aussagen all dieser Erzählungen lassen
sich allerdings zusammenführen auf einen gemeinsamen Kern: Hinter den Erzäh-
lungen von der „harten, arbeitsamen Kindheit“ steht vor allem das Ziel, implizit
den extremen Wandel der Situation früher gegenüber heute zu unterstreichen. Im
Beschreiben und Auswählen heute unvorstellbarer Lebenslagen und Erfahrungen
kommt es darüber hinaus aber auch zur Demonstration der eigenen Leidens- und
Arbeitsfähigkeit, die den ErzählerInnen auf diese Weise eine gewisse persönliche
Stärke und Lebenserfahrung attestiert. Insofern bemühen sich die ZeitzeugIn-
nen natürlich auch zu bestätigen, dass die Auswahl der Interviewenden nicht zu
unrecht auf sie selbst gefallen ist.
Hans Schuhladen und Georg Schroubek dokumentierten die Betonung der
harten, arbeitsamen Kindheit in lebensgeschichtlichen Erzählungen in ähnlicher
Weise und interpretieren diese Darstellungen als Beleg für traditionell bäuerliche
Denkweise und Mentalität. Fleiß und Arbeitsamkeit wurden von den ZeitzeugIn-
nen als bäuerliche Tugenden internalisiert und bleiben lebenslang bestimmend,
während „Untätigen“ tendenziell mit Spott und leiser Verachtung begegnet wird.222
Die Pflichterfüllung täglicher Arbeit steht im Wertekanon ganz oben und ist zent-
raler Bestandteil der deutenden, subjektiven Sinngebung in der Lebensrückschau.
Dieses Arbeitsethos bzw. diese hohe Arbeitsmoral wurde schon in Bezug auf
andere Erzählstoffe, wie etwa die traditionelle Landwirtschaft, deutlich und ist bei
einem Großteil der ErzählerInnen durch die gesamte lebensgeschichtliche Erzäh-
lung hin immer wieder spürbar und teils auch dominierend. Arbeit als Lebens-
222 Schuhladen, Hans und Georg Schroubek (Hg.): Nahe am Wasser. Eine Frau aus dem Schön-
hengstgau erzählt aus ihrem Leben. Eine Dokumentation zur volkskundlichen Biographiefor-
schung. München 1989. S. 24, 40.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439