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174 gäbe. Dass beide Erzähler in diesen unterschiedlichen Situationen und zu unter-
schiedlichen Zwecken auf dieselbe Formulierung „Aber man war zufrieden“
zurückgreifen, verdeutlicht, dass es sich dabei um einen innerhalb dieser Erinne-
rungs- und Erzählgemeinschaft sehr verbreiteten Topos handelt, der in den Augen
der ErzählerInnen nicht weiter in Frage gestellt werden muss, sondern die Erzäh-
lungen im Gegenteil auf den Punkt bringen soll.
Der Feststellung, dass man trotz der ärmlichen Verhältnisse zufrieden war, ähnelt
die (ebenfalls zumeist abschließende) Bemerkung, dass man „trotzalledem“ eine
„schöne Kindheit“ erlebte oder dass man auf eine „schöne Zeit“ zurückblicke. Der
1934 geborene DW fasst im Rahmen seiner lebensgeschichtlichen Erzählung das
bisher Gesagte, nämlich die Einblicke, die er in seine Kindheit gab, zusammen,
indem er diese Jahre und ihre Eigenheiten bewertet und sie – wie so häufig – seiner
Sicht auf die heutigen Verhältnisse gegenüberstellt:
DW: Aber das war halt so. So war es ja eine schöne Zeit, weil man … ich sag
immer, man hat nicht alles gehabt, aber für uns war es eine schöne Zeit. Wir
haben das gar nicht mitbekommen, dass uns was fehlt. Wenn man es nicht
sieht, fehlt es einem ja auch nicht! Heute die Kinder sind nicht mehr zufrieden.
Die haben so viel Spielzeug und Sachen da. Die wissen ja auch nicht mehr
was sie wollen. Und wenn man es nicht sieht und nicht braucht, dann braucht
man es auch nicht. Ja, wir haben es schön gehabt. Der Großvater hat uns aus
einem Klotz ein Auto gemacht oder sowas. Und da hat man dann das Holz
herumgezogen, das war schön. Und später, als der Vater da war, haben wir
auch Spielzeug bekommen. Der Vater hat uns dann schon immer wohl wollen.
So war es halt.
DW konstruiert hier das Bild einer wunschlos glücklichen Kindheit, in der man zu
bescheiden war und zu wenig informiert über mögliche Objekte der Begierde, als
dass man unzufrieden hätte sein können. Dass es sich hier um eine retrospektive
Bewertung der eigenen Kindheit handelt, liegt auf der Hand. DWs Darstellung ist
keinesfalls mit den tatsächlichen Befindlichkeiten, wie er und seine Geschwister
sie einst erlebten, gleichzusetzen. Eben darin liegt die Idyllisierung der Vergan-
genheit: Die ErzählerInnen erinnern sich an einzelne Details ihrer Kindheit und
automatisch werden diese Erinnerungen mit gegenwärtigen Beobachtungen kon-
frontiert, was einen Vergleich und eine Bewertung zur Folge hat. Sofern die betref-
fende Person mit sich selbst und dem Verlauf ihres Lebens zufrieden ist, ist die
Feststellung, dass somit auch die Rahmenbedingungen nur zufriedenstellend sein
konnten, naheliegend. Hinzu kommt eine eventuelle Verklärung der „unbeschwer-
ten Kindheit“ und Sehnsucht nach den starken Eltern oder Bezugspersonen, die
in der Retrospektive die Kindheit oder auch andere Lebensabschnitte schließlich
sogar uneingeschränkt als „schön“ erscheinen lassen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439