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I: Aha. [lacht] Ja, können Sie mir da vielleicht ein bisschen mehr erzählen?
EF: Ja, im Sommer sind sie dann auch drinnen gewesen. Ja, da bin ich ja
viel drinnen gewesen. Ja, dann haben sie auch eine Köchin drinnen gehabt.
Und das ist die Frau gewesen vom „Botha Joköbli“229, wo das Hotel Both in
Schruns haben. Diese Köchin ist dann die Frau von dem gewesen, „Botha
Jokob“. Und dann ist sie so ziemlich weit ausgeschnitten gewesen, gell. Einen
nackten Rücken gehabt. Sie haben dann auch eine kleine Katze drinnen
gehabt. Jetzt bin ich her gegangen und habe die Katze auf einen Hakenste-
cken hinaufgesetzt und habe sie ihr über den Rücken hinaufgelassen. „Mei
liabr, denn hon i abr könna Fäda züha.“230 [lachen] Die Putzbürste und „dr
Bäsma“231, und alles Mögliche ist geflogen gekommen. [lachen] Hei, ich durfte
nicht mehr da hin.
I: Ah. [lachen]
EF: Ja, ja, so solche Spitzbubenstückchen hat man dann schon auch gemacht.
Lausbubengeschichten versuchen im Rahmen lebensgeschichtlicher Erzählungen
besonders die Funktion der Unterhaltung zu erfüllen. Schon das häufige Lachen
der Erzähler selbst weist darauf hin. Auffallend ist die Inszenierung der Geschich-
ten: Bemerkungen wie „‚Himmel nochamol‘ haben wir ab und zu ein Theater
gehabt“ leiten die Erzählungen ein und steigern die Spannung. Den Höhepunkt
der Erzählungen stellen die jeweiligen Streiche und die Reaktionen darauf dar, die
schließlich mit Kommentaren wie „Und wir haben eben gelacht oben“ abgeschlos-
sen werden.
Mit den Geschichten inszenieren sich auch die Erzähler selbst, denn besonders
die Lausbuben- und Schulgeschichten dienen wie kaum ein anderer Erzählstoff
der Selbstdarstellung. Die Hauptdarsteller werden als kreativ, verwegen, mutig und
frech dargestellt – und sobald sie dem Bubenalter entwachsen sind, kommt der
hohe Stellenwert des weiblichen Geschlechts für die Hauptfiguren als wichtiges Ele-
ment in den Erzählungen hinzu. Die Aneinanderreihung der obigen Lausbuben-
geschichten erfolgte entlang zunehmender geschlechtsspezifischer Relevanz in der
Aussage. Wo ST noch von harmlosen Jungenstreichen, wie dem Festklemmen von
Türklingeln, berichtet, werden in TGs Erinnerungserzählung fremde Männer im
Dorf von Buben mit Steinen beworfen. Die Erzählungen von UU und EF machen
dezidiert das weibliche Geschlecht zum Angriffspunkt: Während in EFs Darstel-
lung zwei Hirten dem Senner vorgaukeln, sie bekämen Damenbesuch, woraufhin
dieser die verkleidete Dame als „Sau“ bezeichnet, kommt es in UUs Geschichte zu
einem tatsächlichen Angriff auf den freizügig ausgeschnittenen Rücken der Wir-
tin, indem er ihr denselbigen mit einer Katze zerkratzt. Die Tatsache, dass alle vier
Geschichten – sowie überhaupt alle vergleichbaren „Lausbubengeschichten“ – aus-
schließlich von Männern erzählt werden, zeigt die hohe Relevanz dieser Erzählun-
gen besonders in Hinblick auf Selbstdarstellung, Geschlechteridentität bzw. auch
229 Both Jakob.
230 sinngemäß: Dort musste ich aber schnell verschwinden.
231 der Besen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439