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186 Während die Autorität in Person des Lehrers als zwiegespalten, nämlich teils posi-
tiv und teils negativ, in den Erzählungen beschrieben wird, erfährt die Autorität in
Person des Pfarrers zumeist uneingeschränkt Kritik. Die heute in den Erzählungen
spürbar große Distanz zur Autorität des Pfarrers basiert sicherlich vor allem auf
einem Wandel der Werte. Der Pfarrer steht in den Erzählungen (nicht nur symbo-
lisch) für eine konservative, patriarchale und teils auch lebensfremde Kirche, die
an alten Werten festhielt, während die Menschen im Laufe des 20. Jahrhunderts
von einem Wandel der Werte geprägt wurden. Viele (besonders ältere) Vertreter
der katholischen Kirche standen der Modernisierung, wo sie einen Wandel in den
sozialen Werten und Normen herbeiführte, häufig kritisch gegenüber. Drei Aus-
schnitte sollen die Darstellungen der kirchlichen Autorität in Person des Pfarrers
– sehr repräsentativ für die meisten anderen Erzählungen – in ihren wichtigsten
Spielarten illustrieren:
RR ♂, geboren 1919:
RR: Den Pfarrhof hat man, glaube ich, um 1900 herum gebaut. Und da ist
ein Pfarrer Halbmayer unten gewesen. Halt auch ein furchtbarer Mann, ein
gewalttätiger. Und da hat man ihm eine Ladung hinein geworfen, in der
Nacht, bei einem Fenster. Dann hat es ihm den Hund erschlagen, in der Stube,
und den Boden hinunter geschlagen. Der Pfarrer ist im Schlafzimmer gewe-
sen. Und da ist nie etwas heraus gekommen. Und da ist eben „des Stampfersch
Josöfli“248 sei da gleich danach nach Amerika geflohen. Da haben sie immer
gemeint, er könnte das gewesen sein. Aber es sei nie heraus gekommen, nie
heraus gekommen, gell, [lacht] wer das gewesen ist. Musst du denken, damals,
was das für einen Aufruhr gegeben hat. Damals. Ist ja furchtbar gewesen,
einen Geistlichen so zu behandeln. […] Und da haben sie eben einen Feuer-
wehrball gehabt. Und da habe der Halbmayer am Sonntag gesagt, er verbiete
allen Mädchen oder Frauen, auf diesen Ball zu gehen. Stell dir einmal vor.
Jetzt seien nur zwei gegangen. […] Da unten. Am anderen Sonntag habe er
auf der Kanzel gesagt, er danke allen Frauen, dass sie sich so gehalten hätten.
Es seien nur „zwä blödsinnige Wiebr“249 gewesen. [lacht] Stell dir das einmal
vor.
IJ ♂, geboren 1924:
IJ: Und sonst bin ich immer in Vandans zur Schule gegangen. Dort erinnere
ich mich nur mehr an das eine, da gab’s einen Pfarrer im Religionsunterricht –
das war schon gegen Sommer hin – und da ging ich einmal mit einem Hemd-
chen, dass nicht über den Ellenbogen ging. Da hat mich der Pfarrer Strafe
schreiben lassen, weil ich eben … ich soll mich anständig bekleiden, das soll
ich mehrmals schreiben. Die mussten über den Ellenbogen gehen die Hemden,
248 Stampfer Josef.
249 zwei blöde Frauen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439