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188 gewesen, so RRs werthaltiger Endpunkt, da dieser doch eine der wichtigsten Res-
pektspersonen im Ort gewesen sei. Anschließend beschreibt RR noch die Macht,
die der besagte Pfarrer über das Verhalten der BewohnerInnen hatte, die sich
nach einer Predigt nicht mehr auf einen Feuerwehrball zu gehen trauten. RR hat
diese Ereignisse selbst nicht miterlebt. Er wählt diese Anekdoten für seine lebens-
geschichtliche Erzählung vermutlich aus, um die sozialen Verhältnisse im Dorf
mithilfe dieser Geschichten besonders drastisch zu illustrieren und vielleicht auch
um selbst kritisch Position gegenüber dieser konservativen Macht im dörflichen
Gefüge zu beziehen.
IJ flicht in seine lebensgeschichtliche Erzählung ein persönliches, für ihn unan-
genehmes Erlebnis mit dem Pfarrer ein, der ihn im Unterricht ob seines kurzärme-
ligen Hemdes rügte. Dieser heute unnachvollziehbare Eingriff in die Privatsphäre
sowie die Bloßstellung vor der Klasse und schließlich die Bestrafung einer Tat, für
die der junge IJ sich selbst nicht verantwortlich fühlte (weil ihn ja seine Mutter
eingekleidet hatte), sind die drei Eckpfeiler IJs Erzählung, die einerseits den Wer-
tewandel im Laufe seines Lebens ausdrücken und andererseits auch die Macht und
die konservative Haltung des Pfarrers verdeutlichen sollen.
OP zielt mit seiner Erzählung von der Bestrafung durch den Pfarrer für das
Fallenlassen eines Buches auf eine ähnliche Aussage wie IJ ab – zeichnet hier aller-
dings ein drastischeres Bild, indem Machtverhältnisse durch körperliche Gewalt
dargestellt werden. Während IJs Hemd-Geschichte heute wunderlich anmutet,
schockiert die Erzählung OPs aufgrund der rohen Gewalt, die an einem kleinen
Kind verübt wurde. OP möchte mit seiner Erzählung nicht nur die Ungerechtig-
keit des Pfarrers und den Wandel der Verhaltensnormen illustrieren, dem Erzähler
ist es ein Anliegen, die konkrete Ausprägung der Autorität („Dia hon do Gwahr
ghet“), nämlich in Form körperlicher Gewalt, zu unterstreichen.
Die Darstellung von Autorität als Machtgefälle und ihrer Manifestation in Form
von Gewalt ist spezifisch für Erzählungen von der Rolle des Pfarrers im Ort und
für die eigene Lebensgeschichte. Sie ist allerdings teilweise auch typisch für Erzäh-
lungen über andere Autoritäten, wie eben über die Lehrperson oder auch über
den Vater. Dabei handelt es sich in den Erzählungen nur in seltenen Fällen um
körperliche Gewalt, von der berichtet wird. Häufiger werden Entscheidungen des
Vaters beschrieben, die über die Wünsche der beinahe erwachsenen Kinder hin-
weg getroffen wurden, sie persönlich verletzten und auch den weiteren Lebensweg
maßgeblich bestimmten. Zahlreiche Erzählungen berichten etwa vom Verbot des
Vaters, eine Schule zu besuchen.256 Die 1930 geborene BX etwa hätte die Möglich-
keit und den Wunsch gehabt, die Lehrerbildungsanstalt zu besuchen. Dieser Weg
wurde ihr ohne weitere Erklärungen verboten, wobei das Verhalten des Vaters die
Erzählerin besonders im Umgang mit ihren eigenen Kindern stark prägte:
256 Vgl. Albertini-Bisaz, Anna Mengia von: „Dass ich nicht studieren durfte, tat mir sehr weh.“ In:
Cathomas-Bearth, Rita u.a. (Hg.): Erzählenhören. Frauenleben in Graubünden. Chur 20003.
S. 153–178.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439