Page - 191 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Image of the Page - 191 -
Text of the Page - 191 -
191
1930er und 1940er Jahre handelt es sich häufig um Erinnerungen an konkrete his-
torische Ereignisse, die zeitlich fixierbar sind und damit einen Vergleich der Erzäh-
lungen zulassen. Lehman spricht in diesem Zusammenhang von einer „Dominanz
des Geschichtlichen über das Lebensgeschichtliche“259. Das Bewusstsein der dar-
aus folgenden Vergleichbarkeit der Erzählungen verunsichert die ZeitzeugInnen
ebenso wie das Wissen, das die ErzählerInnen in all den Jahrzehnten seither ange-
sammelt haben und das heute zwingend in die Erinnerungen einfließt. Gerade in
Bezug auf die Erzählungen über die 1930er Jahre und den Nationalsozialismus
wird besonders deutlich, dass es sich bei Erinnerungserzählungen um „rückschau-
end interpretierende Rekonstruktionen“260 handelt.
In Erzählungen findet diese Tatsache in mannigfacher Weise ihren Niederschlag.
Ein Paradebeispiel für den Einfluss der Retrospektive auf die lebensgeschichtlichen
Erzählungen sind sogenannte „Rechtfertigungsgeschichten“261, mithilfe derer in
lebensgeschichtlichen Erinnerungen Korrekturen an den tatsächlichen Abläufen
vorgenommen werden, welche die einzelnen ErzählerInnen oder ihre Familien in
ein günstiges Licht rücken – und zwar präventiv, noch bevor die Erzählenden von
irgendeiner Stelle zur Rechtfertigung aufgefordert werden könnten.262 Rechtferti-
gungsgeschichten sind grundsätzlich immer dann erforderlich, wenn im Handeln
eine moralische Regel verletzt wurde263 bzw. wenn die erzählende Person erwar-
tet, dass ihr eine derartige Verletzung seitens der ZuhörerInnen unterstellt wird.
Wenngleich keinesfalls vorab wissentliche Korrekturen am historischen Sachver-
halt unterstellt werden können, so ist zumindest die Tendenz zum legitimierenden
Erzählen in den Geschichten, die den Zeitraum 1930 bis 1950 betreffen, omniprä-
sent. Ein Beispiel für diese legitimierende Tendenz soll gleich eingangs ein Aus-
schnitt aus der Erzählung der 1904 geborenen EV geben:
EV: Die Ehe war schon gut, aber wir sind in so schlechte Zeiten hinein gekom-
men! Die 30er Jahre, da haben sie alle noch nichts gewusst davon. [lacht] Die
30er Jahre sind schrecklich gewesen. Keine Arbeit. Er ist Mechaniker gewesen,
mein Mann. Gut angestellt, so bei der Firma, ist aber plötzlich … hat man
keine Arbeit mehr gehabt. Und die Leute sind beim Hitler gewesen, überall
[räuspert sich] hat’s gefehlt. Und das Haus haben wir neu herrichten müssen,
das hat der Vater gekauft und das ist mehr so eine Baracke gewesen, ein ural-
tes Bauernhaus.
259 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 174.
260 Klafki, Wolfgang: Einleitung. In: Klafki, Wolfgang (Hg.): Verführung Distanzierung Ernüchte-
rung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiographisches aus erziehungswissen-
schaftlicher Sicht. Basel 1988. S. 7–18. Hier S. 9.
261 Lehmann, Albrecht: Rechtfertigungsgeschichten. Über eine Funktion des Erzählens eigener
Erlebnisse im Alltag. In: Fabula 21. Berlin 1980. S. 56–69.
262 Bausinger: Perlmanns Erzähltheorie. S. 199.
263 Löffler: Zurechtgerückt. S. 96.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439