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200 zu den Ohren herausgehangen schon langsam. Grad als Bub hat dich das ja
nicht interessiert. Es hat dir schon gefallen, die „Umherspringerei“277.
Am Beispiel JJs Erinnerungserzählung wird nachvollziehbar, dass Kinder und
Jugendliche die politischen Veränderungen vor allem als großes Abenteuer emp-
fanden. Sie wurden mit Fahnen, Fackeln und Parolen in die Inszenierung einge-
bunden und so vom ersten Tag an begeistert. An anderer Stelle kann die Begeis-
terung der Kinder und Jugendlichen für das nationalsozialistische Angebot noch
detailreicher aufgezeigt werden, wenn es zur Analyse der Erinnerungserzählungen
zum Thema „Hitlerjugend“ kommt. Gerade aus der Retrospektive fällt dem Erzäh-
ler JJ seine Beobachtung der Gewalt an der Schuldirektorsfrau ein, welcher er im
Wissen um die Gewaltaffinität des Regimes vor allem rückblickend Bedeutung
beimisst.
Einen weiteren Bereich, an dessen Beispiel die ZeitzeugInnen gerne die Verände-
rungen nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich aufzeigen, stellt die Reli-
gionsausübung dar. Gerade in ländlichen, traditionellen Regionen, wie sie das
Montafon in den 1930er Jahren darstellte, stieß die ablehnende Haltung der Nati-
onalsozialistInnen gegenüber Kirche und Religion besonders auf das Missfallen
der Bevölkerung. Zahlreiche ZeitzeugInnen erinnern diesen Konflikt als beson-
ders schwierig für sie selbst und ihre Familien. In der Thematisierung der Dis-
krepanz zwischen Nationalsozialismus und Religion hat sich in den untersuchten
lebensgeschichtlichen Erzählungen ein Topos herauskristallisiert, der mit „Hitler
tritt anstelle des Herrgotts“ betitelt werden könnte. Dieses typisierte Bild wurde
im Übrigen auch in anderen Untersuchungen lebensgeschichtlicher Erzählungen
belegt278 und lässt sich wohl auf die Bemühungen der NationalsozialistInnen, Hit-
ler und das Hakenkreuz-Symbol gottgleich – angelehnt an die religiöse Praxis des
Hausaltars – zu installieren, zurückführen.279
Nachfolgend sollen drei ausgewählte Beispiele die erzählerische Ausprägung
rund um diesen Topos illustrieren. Den Anfang macht die Erzählerin EV mit
einem Vergleich des Ersten mit dem Zweiten Weltkrieg:
EV ♀, geboren 1904:
EV: Ja, die haben so ein Fest gegeben. Einen Ball, zu Ehren der Heimkeh-
rer. Mein Gott, wo die Buben eingerückt sind, hab ich mich gewundert. Das
waren ja 10-Jährige und die haben so gejubelt. Das seh ich heute noch das
Bild, wie sie von Schruns weggefahren sind mit der Bahn. Mit der Bahn haben
277 Herumlauferei.
278 Schuhladen, Hans und Georg Schroubek (Hg.): Nahe am Wasser. Eine Frau aus dem Schön-
hengstgau erzählt aus ihrem Leben. Eine Dokumentation zur volkskundlichen Biographiefor-
schung. München 1989. S. 29.
Varga, Lucie: Zeitenwende. Mentalitätshistorische Studien 1936–1939. Frankfurt a. M. 1991.
S. 165–167.
279 Wallnöfer: Geraubte Tradition. S. 37f, 141.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439