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wir sind immer misstrauisch geblieben. Unsere Familie ist immer ein bisschen
misstrauisch gewesen. Alle. Und das mit Recht – plötzlich ist der Krieg aus-
gebrochen. Und dann, dann ist der Krach losgegangen. Dann sind natürlich
wieder viel viel gefallen und, und … ja.
EVs Darstellung der Ereignisse um den „Anschluss“ sind zwiegespalten. Einerseits
spricht sie in Bezug auf die staatlichen Unterstützungen von „goldenen Zeiten“,
andererseits beschreibt sie, dass man durch den Einmarsch der Deutschen „noch
einmal ärmer“ wurde, weil diese „alles zusammenkauften“. Wie viele andere betont
EV, dass sie selbst und ihre Familie den Nazis stets misstrauisch gegenüberstanden
und die Entwicklungen sehr kritisch beobachteten. Diese Positionierung gegen-
über dem Nationalsozialismus ist die häufigste unter den untersuchten Erzählun-
gen, nur einige wenige ZeitzeugInnen räumen ein, dass auch sie anfangs begeistert
waren, bis sie erkannten, was das Regime tatsächlich im Schilde führte. Der 1929
geborene GH spricht offen über die großen Erwartungen seiner Familie an die
NationalsozialistInnen anlässlich des „Anschlusses“ an das Deutsche Reich:
GH: Ja, ja, ich muss ehrlich sagen, es ist so … wir sind … mein Vater ist schon
sowieso deutschfreundlich gewesen, also deutsch, nicht Nationalsozialist,
aber er ist nicht beim Bauernbund gewesen, oder. […] Und wo natürlich der
Anschluss gewesen ist, ist halt fast augenblicklich ist es viel besser geworden,
wirtschaftlich. Man hat natürlich damals, wie es wahrscheinlich jeder, oder
halt viele so denken müssen, parallel wie ich … Man hat es soweit begrüßt,
dass das so gekommen ist, oder. Ohne jetzt zu denken, ja was weiß ich, es
ist der Hitler, oder was weiß ich was, da alles Mögliche. Damals hat es sich
ja gezeigt, es ist wirtschaftlich so gewesen, dass … der Vater hat gleich dann
einmal können … Ein Mähmaschinchen hat man mit der Zeit dann anschaf-
fen können, und das hätte man vorher ja nie können. Und die Milch in der
Sennerei hat man abgeben können um einen ziemlich guten Preis. Wenn er
zwischenzeitlich noch auf den Beruf arbeiten gegangen ist, hat er ordent-
lich verdient, er hat nicht nach Frankreich hinein müssen, […] Und das ist
uns einfachen Leuten, halt, in unserer Familie durchgekommen. Wir haben
damals praktisch eine Freude gehabt damit. Man hat ja nicht gewusst, dass
der Krieg kommt und so weiter. Dort haben wir also, das muss man natürlich
unterscheiden. Wir reden jetzt von der wirtschaftlichen Sache. Also von uns,
wir haben das damals begrüßt. Angefangen vom Vater bis durch die ganze
Familie durch übrigens. Ist uns dann auch ein bisschen geblieben, was … was
aber nie, dass wir da irgendetwas … mit dem Nationalsozialismus haben wir
auch keine Freude gehabt danach. Und mit dem Krieg und mit allen. Und
man hat draufgezahlt genug. Da gibt es glaube ich gar nichts zu reden. Da
schließe ich mich sicher den allermeisten Leuten auch an, in der Meinung
da, dass man das muss verurteilen, da gibt es glaube ich überhaupt nichts zu
debattieren. Ja. So ist es da gewesen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439