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206 sich selbst und ihr Verhalten keinesfalls in Verbindung mit den Ereignissen zwi-
schen 1938 und 1945 und einige ErzählerInnen bedauern wörtlich, dass der „Auf-
schwung“ im Rahmen des „Anschlusses“ mit dem Krieg bereits wieder zu Ende
war.
Generell beteuern die ZeitzeugInnen allerdings häufig, den NationalsozialistInnen
kritisch gegenübergestanden zu sein. Ganz im Stile der bereits angesprochenen
moralischen Trennung von Vor- und Nachteilen des Nationalsozialismus berich-
ten viele von den positiven Aspekten der NS-Zeit, während sie sich deutlich vom
Krieg und insbesondere von den Verbrechen, die unter dem Regime verübt wur-
den, distanzieren. Heftige Kritik am Nationalsozialismus in all seinen Dimensio-
nen üben nur einige wenige ZeitzeugInnen, deren Positionen und Bewertungen
der Ereignisse um den „Anschluss“ an das Deutsche Reich nun abschließend Platz
in diesem Kapitel finden sollen.
Die Gründe für die kritische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus sind
dabei sehr unterschiedlich und haben in den meisten Fällen mehr mit der per-
sönlichen (benachteiligten) Situation als mit einer politischen oder moralischen
Bewertung des NS-Regimes zu tun. Die Familie des 1925 geborenen AC beispiels-
weise war im ganzen Dorf für ihre christlichsoziale Gesinnung bekannt. Sie hatte
mit dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland weniger eine Verbesserung, als
vielmehr eine Verschlechterung ihrer Situation zu erwarten:
I: Kannst dich du noch erinnern an den Anschluss, an den Tag?
AC: Ah, an das kann ich mich noch gut erinnern. Da hab ich grad eine Blind-
darmentzündung gehabt. In der Zeit bin ich vor dem Anschluss im Spital
gewesen, aber dann bin ich daheim gewesen. Das weiß ich noch gut. Und in
dem Jahr vom Anschluss … das weiß ich noch wie heute, sind wir all da in
der Stube gewesen, wir Kinder, Mama, Däta, von meiner Mama die Schwes-
ter […] Und da ist der Hitler-Umzug gewesen, an einem Sonntag. Vor dem
Anschluss. [unverständlich] Da haben wir in der Stube herinnen schon gehört,
wo sie herum sind draußen „Sieg heil, Sieg heil, Sieg heil!“ Wo der Umzug da
her gekommen ist, von der Traube her, haben sie die Fäuste so hergestreckt:
„So ihr schwarzen Hunde, jetzt könnt ihr „da Schwanz ins Födla stecka“283. –
„Donige Lüt!“284 Nur, die Namen sage ich jetzt nicht.
I: Nein, nein, um das geht es ja gar nicht.
AC: Aber man tät nicht glauben, zu was ein Mensch kommen kann. „Donige
Lüt!“ Und einer ist hergekommen, in die Stube, er hat allerdings schon zuviel
gehabt [Alkohol, Anm.], aber ist gleich, hat er geflucht und getan: „So, ihr
Schwarzen!“ Weil wir sind erzschwarz immer gewesen. Von der Vater- und
Mutterseite.
283 den Schwanz in den Hintern stecken.
284 Einheimische Leute!
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439