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gesetzt. Und haben sie dann die Bombe im Gefängnis heraußen, da bei uns
beim Museum, wo der Gefängnishof dort in der Nähe gewesen ist, weil früher
haben wir immer da hinunter geschaut, wer da wieder eingesperrt ist. Und
dann haben sie drauf geschossen aus der Entfernung. Derweil ist halt Honig
heraus gekommen statt der Ding [lacht]. Sie sind dann schon ins „Fasnat-
blättle“289 auch noch gekommen [lacht]. Aber ich meine nur, wie verunsichert
dass man damals gewesen ist. Und wo der Umsturz gekommen ist, das ist …
der Papa ist eher ein Nazi gewesen. Die Mama ist schwarz gewesen. […] Und
dann hat es diesen Umsturz gewesen. Und dann weiß ich noch, da hat man
dann damals die Gemeindevertreter von Tschagguns, der Bürgermeister ist
der Bahl gewesen, glaube ich, nein der Jochum, aber den haben sie dann gehen
lassen. Aber ich glaube … auf jeden Fall den Bahl und solche in Schutzhaft
genommen, hat es geheißen, anno 38. Da hat man eingesperrt, um sie zu
schützen. Schutzhaft. Dann sind sie herauf marschiert. Man muss sich vor-
stellen, die Straßen sind damals noch nicht geteert gewesen. Und dann sind sie
herauf marschiert. Ich kann mir sie heute noch vorstellen in diesen dunklen
Hosen, ein weißes Hemd, und nur immer „Sieg Heil – Sieg Heil – Sieg Heil“.
Und die sind sich … wie Kettenhunde haben sie da die schwarzen und roten
[lacht] Gemeindevertreter herauf geführt. Und dann unsere Nachbarin, weißt
du, diese Namen kann ich alle nicht sagen, weil da sind Kinder, Enkel davon.
Und das ist furchtbar. Und für mich ist es damals aber auch furchtbar gewe-
sen, sind hingegangen, und denen haben sie mitten ins Gesicht „ihigspeut“290,
weißt du. Weiter heroben sogar hat eine andere Frau auch – „Wieber“291 sind
da furchtbar – diesen alten Buben damals einen Schilling, ein Schilling ist
nämlich viel gewesen, gegeben, wenn sie auch noch spucken. Also irgendwie
furchtbar dieser Hass, der da gewesen ist. Und alles ist so total organisiert
gewesen, total organisiert.
In JJs Darstellung fließt, angesichts seines Bubenalters in den 1930er Jahren, anzu-
nehmenderweise Einiges an Wissen ein, das sich der Erzähler erst später aneig-
nete. JJ spricht die Flucht von Montafoner Nationalsozialisten an, die sich aufgrund
des Verbots der NSDAP in Österreich seit 1933 strafbar gemacht hatten und sich
anschließend in Deutschland der sogenannten „Österreichischen Legion“ anschlos-
sen. Die vielerorts aufgemalten Hakenkreuze und die politische Energie der ver-
botenen Nazis werden in JJs Darstellung durch die austrofaschistische Regierung
mit Repression beantwortet, die (nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Bombenan-
schläge in Österreich) zunehmend nervöser wird – was JJ mit der ironischen Anek-
dote zur vermeintlichen Bombe in Form eines Honigglases verdeutlicht. Mit dem
„Anschluss“ schließlich ging die alte Repression in eine neue über: JJ beschreibt, wie
wichtige Persönlichkeiten in „Schutzhaft“ genommen wurden und die Emotionen
289 Fasnachtzeitung; Organ, in dem komische Ereignisse und Dummheiten in der Gemeinde einmal
jährlich dokumentiert werden.
290 hineingespuckt.
291 Weiber; Frauen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439