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jugend gewesen waren, dass es keine Alternative dazu bzw. einen „Zwang zur Mit-
gliedschaft“ gab. Der 1924 geborene SZ stellt diese Aussage beispielsweise gleich an
den Anfang seiner Ausführungen über die Hitlerjugend:
SZ: Ja, ich war bei der Hitlerjugend. Da hat jeder mitgehen müssen, wer da
nicht gegangen ist, da hat man sofort gesehen, „ja, holla, entweder ist er Kom-
munist oder sonst jemand“. Und wir sind alle, kann man sagen, klassenweise
eingestellt worden. Da hat man natürlich Heimatabende gehabt und so weiter.
Hat man uns präpariert und so weiter auf verschiedene … Man hat auch
sportliche Übungen gemacht. Das war dann natürlich immer so, am Sonntag
oder wann, hat man immer Weitsprung und 1000 Meter-Läufe und so weiter
gemacht. Sportlich sich betätigt oder man ist ins Bad gegangen und alle sind
sie von Hitlerjugend aus. Ich war kein Führer, da waren andere da, ältere, die
natürlich ein besseres Mundwerk gehabt haben und sich besser durchsetzen
haben können. Manche haben dann natürlich auch, von den Führern dann,
gute Stellungen bekommen, eben auch. Wenn sie sich gut betätigt haben und
positiv betätigt haben. Ich hab mit 14 Jahren noch nicht begriffen, was das
Ganze soll und was es bewirken kann. Erst später ist man dann draufgekom-
men, dass diese Partei ganz andere Ziele hatte, die man gar nicht verstand.
Aber man musste praktisch gehen. Die Kleinen, bis zu 10 Jahren, waren die
kleinen Pimpfe, die Anderen war die Hitlerjugend bis 16, 17. Bis sie eingezo-
gen worden sind zum Arbeitsdienst oder zum Militär.
SZs Erinnerungserzählung entspricht einer Rechtfertigungsgeschichte. Die For-
mulierungen „Da hat jeder mitgehen müssen“ und „Und wir sind alle klassenweise
eingestellt worden“ sollen gleich eingangs klarstellen, dass man keine Wahl hatte.
SZ spricht nirgends von Freude oder Abenteuer, er stellt sein Engagement bei der
Hitlerjugend als Pflicht dar, bemüht sich allerdings zu betonen, dass er „kein Füh-
rer war“ und mit 14 noch nicht begriffen hätte, „was das Ganze soll“. Es ist typisch
für Rechtfertigungsgeschichten, dass die ErzählerInnen sich bemühen darzulegen,
dass sie die Ziele des Regimes bzw. auch die Rolle des Rädchens, das sie selbst hier
darstellten, lange Zeit nicht erkannten und vor allem keine Möglichkeiten hatten,
hier auf den Lauf der Geschichte Einfluss zu nehmen. Deutlich wird hier gleichzei-
tig eine gewisse „Normalität“ bzw. Selbstverständlichkeit, die die Mitgliedschaft in
der HJ offenbar darstellte. Diese Normalität wurde erst im Rückblick als erschre-
ckend oder unangemessen erkannt und bewirkt in der Folge rechtfertigende Ten-
denzen in der Darstellung.299
Nicht alle Interviewten beschreiben ihre Erinnerungen an die Hitlerjugend posi-
tiv oder auch neutral-distanziert. Ein großer Teil der ZeitzeugInnen stellt Propa-
299 Lippitz, Wilfried: Eine Kindheit im Nationalsozialismus. Erinnerungen eines Erziehungswissen-
schaftlers. In: Schlüter, Anne und Ines Schell-Kiehl (Hg.): Erfahrung mit Biographien. Tagungs-
dokumentation der Duisburger Tagungen zum Thema „Erfahrungen mit Biographien“. Bielefeld
2004. S. 109–120. Hier S. 112.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439