Page - 219 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Image of the Page - 219 -
Text of the Page - 219 -
219
Fanatismus, aber auch der schließlich vollkommene Realitätsverlust der National-
sozialistInnen besonders drastisch dargestellt, indem neunjährigen Buben eröffnet
wird, dass sie sich notfalls mit Waffen dem heranrückenden Feind entgegenstellen
sollten. YZs Abschlussbemerkung „Der große Vaterlandsverteidiger!“ greift voller
Ironie die Extreme dieser Situation auf und stellt den Fähnleinführer endgültig als
Schwächling und Versager dar.
Dass allerdings der Einsatz von Hitlerjungen in den letzten Gefechten gegen die
Alliierten durchaus Realität werden konnte, zeigt die Erinnerungserzählung des
1930 geborenen JQ, der in Graz aufwuchs, wo er in den letzten Kriegstagen als
15-Jähriger von Kampfhandlungen gerade noch verschont blieb:
JQ: Ja, ich habe in der Stadt gewohnt. Ich habe die ganzen Bombenan…
I: Wie war das da mit den Bomben…?
JQ: Ja, die habe ich alle mitgemacht. Und bei der HJ haben wir im letzten
Jahr zwei Mal im Winter immer nach Südsteiermark, also Cilli und Alt Sau-
erbrunn und Radkersburg, und da hinunter müssen, Panzergraben machen
und Schützengraben. Und über den Winter da haben dann die Spitfire auf
uns geschossen, wenn wir heim gegangen sind durch die Schneewüsten. Und
da habe ich … und ihm Wehrertüchtigungslager war ich auch schon. Und Kol-
legen von mir, Hitlerjungen, haben den ersten Panzervorstoß von der Z-34,
von der sowjetischen Armee, von Feldbach nach Graz abgewehrt. Da haben
… es waren 16-jährige Buben. Ich war erst 15. Da hat das noch nicht … Mich
haben sie noch nicht eingezogen. Und die haben sie mit Panzerfaust, praktisch
16 T-34 vor Graz abgeschossen. Das waren lauter so junge Buben wie ich. Ja.
Aber uns hat eigentlich … Uns ist es erst nach dem Krieg schlecht gegangen.
Das muss ich Ihnen ehrlich sagen. Also wir haben während dem Krieg nichts
… ich war auch ziemlich begeistert. Aber als junger Mensch erlebst du das
anders. Das von den KZ haben wir nie gewusst. Und das ist erst danach alles
so ins Bewusstsein gekommen.
In JQs Darstellung ist der Stolz auf die Leistung seiner HJ-Freunde im Kampf
gegen die Sowjettruppen vor Graz spürbar. Seine Erinnerungserzählung konstitu-
iert sich unter anderem aus Aufzählungen der Leistungen, die die HJ noch in den
letzten Kriegstagen erbracht hat. Seine Ausführungen schließen Topoi ab, die zur
Rechtfertigung dienen sollen: Bei den Aussagen „Uns ist es erst nach dem Krieg
schlecht gegangen“ und „Das von den KZ haben wir nie gewusst“ handelt es sich
um Phrasen, die nicht nur in vielen Interviews, sondern auch im Alltag häufig zum
Einsatz kommen. Wie im obigen Ausschnitt entbehren diese zumeist eines unmit-
telbaren Zusammenhanges mit der Geschichte und antworten auf nicht gestellte
Fragen bzw. erwartete Vorwürfe des Gegenübers. Dass JQ erklärt, er habe „das von
den KZ nicht gewusst“ zeigt, dass er eine diesbezügliche Frage des Interviewers
befürchtet. Dem (Un-)Wissen um die Verbrechen der NationalsozialistInnen und
seiner Darstellung in den lebensgeschichtlichen Erzählungen ist an späterer Stelle
ein Kapitel gewidmet.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439