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228 ziemlich begeistert. Aber als junger Mensch erlebst du das anders. Das von
den KZ haben wir nie gewusst. Und das ist erst danach alles so ins Bewusst-
sein gekommen. Ich habe, etwas habe ich miterlebt in Innsbruck. […] Und das
war im 38er, 39er Jahr, also wo die Übernahme von Österreich war. Und da
habe ich festgestellt, da bin ich mit meiner Mutter einmal in die Stadt gegan-
gen, nach Innsbruck. Und da war der Graubart318, das war ein Schuhgeschäft.
Und das war ein Jude. Und da bin ich ganz entsetzt gewesen, weil da ist „Jude“
und Judenster… und ist ein „Hitler“ … wie heißt man es, ein SA-Mann da
vor der Türe gestanden. Und das ist alles leer gewesen. Und ich konnte das
halt nicht kapieren, und habe meine Mutter gefragt. Und die hat mir das halt
zu wenig genau erklärt, oder vorsichtig, wahrscheinlich, nicht. Ich weiß es ja
nicht. Sie war eine begeisterte Nationalsozialistin. Ich verstehe das schon, weil
der Vater war arbeitslos. Und da hat er natürlich dann eine Stelle bekommen
und war dann etwas, gell.
I: In der Zwischenkriegszeit war er arbeitslos?
JQ: Ja, ja. Gell. Und das ist halt … man muss diese Leute auch verstehen.
Mein Vater hat sicher niemand etwas getan. Und ich verdamme ihn auch
nicht, dass er die Meinung gehabt hat. Weil die Kommunisten und die soge-
nannten Heimatwähler waren ja auch nicht gut, damals. Das waren alles so
… so radikale Vereinigungen. Gell, da warst du entweder rechts oder links
oder was, irgendwie faschistisch oder irgendetwas. Das war die Zeit so. Man
kann da nicht alle Leute so verurteilen. Ja und dann, wie ich halt so gesehen
habe, das Geschäft da, nicht richtig, da bin ich dann von der Schule ein paar
Mal in die Stadt gegangen. Und da habe ich dann schon gesehen, wie sie da
Judengeschäfte – es war zur Zeit von der Kristallnacht, wo so Judengeschäfte
da geplündert und eingeschlagen und alles. Und das hat mich jahreweise
beschäftigt. Aber ich habe nie jemand etwas gesagt und gefragt. Aber ich bin
erst langsam nachher drauf gekommen, nach dem Krieg, was da so eigentlich
los war. […] Dann habe ich schon mitbekommen, dass man so nicht reden
darf und so weiter wie man will und so weiter, gell.
WD ♀, geboren 1926:
WD: Mein Vater ist ein idealistischer Nationalsozialist gewesen, mit großen
Idealen, nichts gewusst vom „A’grecht“319 was dahinter gesteckt hat. Er ist im
Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden in Galizien, und hat sich freiwillig
gemeldet in den Zweiten Weltkrieg. Und ist dann gleich Feldwebel gewesen.
[…] Und dann ist er wieder zurück gekommen nach Wien, an den Haupt-
standort, und da haben sie ihn schon erwartet, die Herren haben ihn degra-
diert und haben ihm alles heruntergerissen. Weil er einfach das Maul nicht
gehalten hat. Er hat gesehen bei den ganzen Transporten, was den Landsern
318 Richard Graubart: http://novemberpogrom1938.at/d/Gaensbacherstrasse.html#Gaensbacherstrasse
_5 am 20.9.2011.
319 Misere.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439