Page - 233 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Image of the Page - 233 -
Text of the Page - 233 -
233
unwahrscheinliche Ausnahme dar. Dennoch sprechen die ErzählerInnen stets
davon, dass man etwa den Nachbarn „geholt und vergast“ hätte, wenn man von
seiner Kritik an der „Regierung Hitlers“ gehört hätte (RR), dass es „Spitz und Knopf
stand damit der Däta nicht nach Dachau“ kam, weil er den Sohn nicht zum Wehr-
ertüchtigungslager lassen wollte (AC), oder dass die „Ahna ins Dachau“ gekom-
men wäre, weil sie eine Gegnerin der Nazis war (JJ). In keinem der Fälle kann von
einer realistischen Bedrohung durch eine Deportation ausgegangen werden – was
verdeutlicht, dass es sich hier weniger um „Angstgeschichten“322 über eine selbst-
erlebte Gefahr handelt, als vielmehr um einen Topos, der gerne in Zusammenhang
mit unangepasstem Verhalten bedient wird.
Einen weiteren wichtigen Erzählstoff stellen die Themenbereiche des Spitzelwesens
und der Denunziation während der NS-Zeit dar. Auch hier folgen die Erzählun-
gen einem bestimmten Muster, wie die nachfolgenden drei Ausschnitte aufzeigen
können:
RI ♂, geboren 1910:
RI: Ich bin bei der SA gewesen, weil alle Jungen sind bei der SA gewesen. Und
eines schönen Tages habe ich auf einmal eine Anzeige bekommen, das heißt
ich habe müssen ins Vallüla-Haus kommen, und da hat mich ein Kollege ver-
klagt, ich tät nicht grüßen und ich hätt dumme Sprüche gemacht und ich täte
nicht „Heil Hitler“ sagen. Und da hat man mich angeklagt. Wahrscheinlich
hat mich der wollen [von der Firma, Anm.] abschieben, dass ich einrücken
muss, weil das ist schon 1940 gewesen. Da ist schon der Krieg losgegangen.
Und dann ist da die Besprechung gewesen, da ist ein höheres Vieh da gewe-
sen, und da hat mich dann wieder ein Mann, ein Mitarbeiter, und das ist ein
Deutscher gewesen, der ist aber noch eine Stufe höher eingestellt gewesen als
wie ich, gell. Und der hat mich da verteidigt und wirklich geschaut, dass ich
nicht bestraft werde. Weil die Strafe wäre gewesen Einrücken, damals.
BD ♂, geboren 1927:
BD: Da haben wir, unter dem Krieg war das noch, einmal die Stube ausmalen
lassen. Und da haben wir einen Malermeister gehabt von Vandans, Schoder
hat er geheißen, und das Männli – mir ist das halt schon ein älterer Mann vor-
gekommen – hat da die Stube gemalt. Und da hat es doch früher die Einrich-
tung gegeben, beim Hitler, das Pflichtjahr, oder. Da haben müssen die „Maig-
gana“323, die wo ausgeschult sind, haben müssen ein Pflichtjahr machen. Und
eine Bekannte von Bregenz, da ist der Vater ein fanatischer Nazi gewesen, da
hat das „Maiggi“ bei uns das Pflichtjahr gemacht. Und jetzt hat das Männli
322 Michel: Biographisches Erzählen. S. 119.
323 Mädchen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439