Page - 240 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Image of the Page - 240 -
Text of the Page - 240 -
240 EV ♀, geboren 1904:
EV: Mein Onkel hat immer gelacht, der hat immer schwarz geschlachtet. Der
hat im Versteck – der ist auch geflüchtet – und hat im Versteck 60 Stück Vieh
geschlachtet für die Gemeinde. Ein heimlicher … weil sonst hätte man sie
ja abliefern müssen. Und einmal haben wir auch ein Fleisch gekauft in der
Nacht und haben’s holen wollen. Und als ich auf die Straße kam mit dem
Fleisch, steht ein chromglänzender Wagen in der Straße, es ist Mitternacht
gewesen. Und zwei hochgewachsene SS im Wagen. Mir ist fast das Herz still
gestanden vor Schreck. Ich hab das Fleisch im Wagen gehabt und mein Mann
hat noch oben gezahlt, wo er’s geschlachtet hat, und hat noch gezahlt. Dann
bin ich zurückgelaufen und „Mein Gott, da sind SS da unten!“. Ja, [lacht] hat
er gelacht, und hat der Ding gesagt, „Ah, das macht nichts. Die haben selber
Fleisch gekauft.“
I und EV: [lachen]
EV: „Lass sie nur kommen, die holen selber das Fleisch“.
UV ♀, geboren 1926:
UV: Ja, der hat wieder gehandelt, in Bregenz haben sie ja riesige Äcker gehabt,
Gerste. Da hab ich auch mit dem Meinrad hinunter gefahren, wenn er Fleisch
holen gefahren ist. […] Er hat Fleisch geholt und die Großmama hat Käse
und Butter gehabt, was sie weggeben hat können – sie musste ja teilweise alles
abliefern – und dann haben wir Gerste und „Türgga“ bekommen, und dafür
haben wir Fleisch und Sauerkäse und Butter dafür gegeben. Das war genug
da, aber sonst hast du die Waren nicht bekommen.
I: Also Sie sind mit dem Meinrad oft auch in der Nacht hinaus ins Unterland
und haben Milchprodukte getauscht gegen …
UV: Ja, da hab irgendwo in ein fremdes Haus hinein müssen, wo er gewusst
hat, der hat Käse und Gerste drinnen: [2 sec. Pause] „Soviel und soviel Fleisch
musst du bringen, und Surkäse.“
EVs Anekdote zeigt auf, warum Meinrad Juen später die Flucht vor der Gendarme-
rie gelang – nämlich weil diese bei ihm häufig Kundschaft war – und dass (wenig
überraschend) auch höherrangige NationalsozialistInnen den Schwarzmarkt nicht
nur tolerierten, sondern sein Aufblühen sogar persönlich förderten. UVs Erzäh-
lung hingegen dokumentiert, wie weitverzweigt der Schwarzmarkt organisiert
wurde: Viele Produkte aus den Gebirgstälern wurden im Rheintal getauscht, bei-
spielsweise gegen Getreide. Über diese Wege waren sehr viele Produkte – zumin-
dest auf dem Schwarzmarkt – während des Krieges auch im Montafon erhältlich.
Etwaige MitwisserInnen profitierten selbst vom Geschäft, sodass der Handel am
Schwarzmarkt letztendlich von vielen Seiten gepflegt wurde.
Insgesamt kann festgestellt werden, dass das Schwarzschlachten und Unterschla-
gen von als Abgaben vorgesehenen landwirtschaftlichen Produkten seitens der
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439