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264 OO: Bis März, Anfang März haben die Amerikaner keinen Schritt vorwärts
gemacht, gell. Und von da an sind sie jeden Tag so vier, fünf Kilometer weiter-
gerückt. Und für uns hat das die Folge gehabt, dass wir jeden Tag Stellungs-
wechsel machen mussten. Zuletzt bis herauf an den Po, und dann haben uns
die Amerikaner eingeholt. Und da sind wir dann in Gefangenschaft geraten.
Und zum Glück bin ich mit nach Amerika. Bis dahin haben die Amerikaner
alle nach Tunis hinunter, und von da an nach Amerika.
I: Ganz rüber über den Atlantik?
OO: Ja. Und da bei Luca, Pisa, Luca, in der Gegend war ein Lager aufgebaut
für 35.000 Gefangene, in einzelne … zu 5.000 immer. Und wir sind so weit gut
behandelt worden, das muss man schon sagen, gell. Wir haben nicht viel, aber
jeden Tag zu essen gehabt. Es war Sommer und da hat man sowieso nicht viel
leiden müssen. […] Und dort sind wir dann geblieben, bis August hinein. Im
Juli hat man angefangen, Gefangene aus Salzburg, Tirol und Vorarlberg, die
waren damals … in der amerikanischen Zone. Vorarlberg war später dann
in der französischen Zone, dann. Und dann hat man diese Bundesländer hat
man heimgeschickt.
OOs Darstellung ist wenig emotional, er beschreibt den schrittweisen Rückzug, die
unvorstellbaren Dimensionen des Lagerlebens, die guten Bedingungen im Lager
und deutet seine baldige Entlassung an. Diese sehr positive Darstellung des All-
tags in der Kriegsgefangenschaft ist die absolute Ausnahme im vorliegenden Quel-
lenmaterial, auch weil die meisten ZeitzeugInnen in sowjetische Gefangenschaft
gerieten. In den Lagern der Sowjetunion waren die Bedingungen weitaus härter.
Hier war bis ins Jahr 1947 jeder in existenzieller Weise vom Hunger betroffen.
In diesem ausgezehrten Zustand mussten die meisten Gefangenen im ungewohn-
ten Klima schwere körperliche Arbeiten verrichten und sie lebten von der Gefan-
gennahme bis zu ihrer Entlassung in einer „Welt hinter Stacheldraht“.357 Ähnliche
Verhältnisse beschreibt der 1912 geborene NN, der von den Engländern gefangen
genommen und anschließend an Jugoslawien ausgeliefert wurde. Die Erinnerun-
gen an die jugoslawischen Lager sind von Hunger und Krankheiten geprägt:
NN: Die Engländer haben alles abgeriegelt, die sind über Italien herauf
gekommen und haben alles abgeriegelt. Die ganze Ding „umadum“. Total zu.
Da haben wir nichts machen können. Wir hätten müssen zurück und über
Jugoslawien hinein. Wir haben keinen Ausweg mehr gehabt. Ja, wir sind dann
noch geflohen, dazu.
I: Was war das für ein Gefühl?
NN: Ja, nur so ein Ding hätte uns nicht begegnen dürfen, so eine Gruppe!
[lacht] Die hätten wir schon erledigt. [5 sec. Pause] Ja, und die Engländer die
haben uns den Jugoslawen ausgeliefert. Die Engländer, die haben uns nicht
wollen, die haben uns den Jugoslawen übergeben. Sogar bis auf Klagenfurt
haben sie noch welche von uns erwischt. Weil sie sind ja bis auf Klagenfurt
357 Lehmann: Gefangenschaft und Heimkehr. S. 9f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439