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Schilderungen des Bombenangriffes auf Feldkirch (bzw. die damalige Lehrerbil-
dungsanstalt in Feldkirch) einen wichtigen Platz ein. Dieser Angriff auf unmittel-
bar heimatliche Gefilde hat die MontafonerInnen offenbar derart erschüttert, dass
das nur zwei Minuten dauernde Bombardement der US-Luftwaffe auf Feldkirch
am 1. Oktober 1943, bei dem zwischen 200 und 210 Menschen zu Tode kamen und
100 verletzt wurden,365 Eingang in mehrere biografische Erzählungen fand. Der
bisher „ferne“ Krieg war so auch für die Montafoner Bevölkerung zur unmittelba-
ren Realität geworden. In manchen Erzählungen streifte das Ereignis die persönli-
che Lebensgeschichte, die sich vor allem im Montafon abspielte, nur am Rande. So
etwa bei der 1904 geborenen EV, deren Tochter anschließend die Ausbildung zur
Lehrerin aufgab:
EV: Ja ja, ja. Eine von den Töchtern hat eh gelernt. […] Dann wollte sie Leh-
rerin werden in Feldkirch und dann ist die Bombe gefallen. Das habt ihr viel-
leicht auch einmal gelesen.
I: Ja, 43.
EV: Ja. Und dann hat es die Schule zusammengehaut. Und dann sind sie von
Ort zu Ort immer zum Lernen [klopft auf Tisch] und [3 sec. Pause] in den
Gasthäusern haben sie wohnen müssen. Sie haben einfach keine Unterkünfte
mehr gehabt. Die meisten sind ausgetreten und haben nicht mehr weiterge-
lernt. Unsere auch nicht mehr. Und eigentlich, ich weiß nicht, sie hat keine
Lust mehr gehabt. Sie hat keine Freude mehr gehabt an dem Beruf. Ich weiß
nicht, ob es der Schrecken war, dass sie an der Schule die Lust verloren hat.
Das ungeregelte Leben wahrscheinlich.
EV war von der Bombardierung Feldkirchs durch den dortigen Aufenthalt ihrer
Tochter indirekt betroffen, insofern als sie sich Sorgen um die weitere Ausbildung
ihrer Tochter machte. Andere ErzählerInnen betraf das Ereignis persönlich, da sie
durch einen Zufall AugenzeugInnen der Vorgänge wurden. Der 1927 geborene JJ
beispielsweise befand sich zu dieser Zeit gerade in Ausbildung an der Lehrerbil-
dungsanstalt und war mit sechs Kameraden an diesem Abend zum „Luftschutz“
eingeteilt. Durch diese Aufgabe war es den Buben möglich, nicht in den Bunker zu
gehen, als der Fliegeralarm losheulte, sondern die Vorgänge zu beobachten:
JJ: Das ist am 1. Oktober 43 gewesen. Da sind wir … „Hoi, Fliegeralarm!“
sind wir auf das Dach hinauf, und haben die Flieger gezählt, und auf einmal
ist der Professor gekommen: wir sind so pflichtvergessene, unwahrscheinliche
Leute! Wir müssen abgesetzt werden. Und so weiter. Wir sind auf unsere Pos-
ten gegangen, und ich bin gerade vor die Haustür hinaus gegangen, und schon
hat es gekracht! Und gesehen hat man gar nichts mehr, musst du dir vorstellen.
365 Albrich, Thomas: Bomber über der „Alpenfestung“: Der Gau Tirol-Vorarlberg im Luftkrieg
1943–1945. In: Steininger, Rolf und Sabine Pitscheider (Hg.): Tirol und Vorarlberg in der
NS-Zeit. (= Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 19) Innsbruck 2002. S. 383–402. Hier
S. 387.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439