Page - 279 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Image of the Page - 279 -
Text of the Page - 279 -
279
über die Grenze zu kommen, waren Begegnungen mit Deserteuren oder flüchtigen
Kriegsgefangenen sehr selten. Der 1924 geborene UU störte gegen Ende des Krie-
ges ungewollt vier flüchtige französische Kriegsgefangene bei der Rast in einem
Alpgebäude auf der Wasserstoba im Silbertal. Er schildert die nicht ungefährliche
Begegnung wie folgt:
UU: Ich hab dann zu dem Kleinhirt gesagt, der war da auch noch, der war
zwei Jahre jünger als ich. Ich hab zu dem gesagt, „wir müssen denen [dem
Vieh, Anm.] Salz geben“. Dann hat der da rauf auf den Stall müssen, da hat
er so ein Stieglein runter ziehen müssen und über dieses Stieglein wollte er
rauf um das Salz zu holen. Dann [lacht] sind vier Mann … da ist so eine
Pritsche oben gewesen […] und da ist es dunkel gewesen. Da war eine Mauer
bei dem Stall und die Pritsche war ganz bei dieser Mauer. Dann ist er wieder
runter gekommen, ist über das Stieglein herunter gelaufen und hat gesagt,
„da sind Leute auf diesen Pritschen.“ Dann bin ich rauf über das Stieglein
und hab gesagt, „wer ist denn da?“, oder ich weiß nicht mehr was. Und dann
sind da vier Mann aufgestanden. Das sind Franzosen gewesen. Gefangene
Franzosen und in Mannheim sind sie aus dem Lager ausgebrochen. Und sind
in die Wasserstoba gekommen! Haben selber noch Schokolade dabei gehabt,
amerikanische Schokolade, die wir nie gesehen haben. Und damals noch …
ich weiß nicht, das reut mich auch, dass wir damals nach dem Krieg nicht
nachgeforscht haben, ob die’s geschafft haben. Ob die in die Schweiz gekom-
men sind. Aber wenn man draufgekommen wäre … mich hätte man ja sofort
erschossen, weil ich die nicht angezeigt hab. Aber die haben … Wir haben
ihnen dann Milch und Brot gegeben und sie haben uns Schokolade gegeben.
Den sechs Männern war offensichtlich schnell klar, dass von einem Konflikt hier
niemand profitieren würde, und man symbolisierte freundliche Gesinnung und
Friedfertigkeit durch den Austausch von Milchprodukten gegen Schokolade. Der
Erzähler unterstreicht schließlich noch seine Sympathie für die vier Flüchtigen,
wenn er empathisch Interesse an ihrem weiteren Schicksal bekundet.
Dass Begegnungen mit Flüchtlingen auch anders ausgehen konnten, zeigt eine
Geschichte des 1929 geborenen GH. Der Erzähler gibt hier wieder, was man im
Dorf von diesem Vorfall erzählte, denn er selbst war nicht Zeuge des Vorfalls.
I: Sind da auch welche durchgekommen, wo in die Schweiz geflüchtet sind
und so?
GH: Ja, das hat’s schon gegeben, ja. Ein krasser Fall, ein ganz besonders böser
Fall ist gewesen … Wir haben in Vandans haben wir die sogenannte „Higa“369
hat das geheißen, gehabt. Hilfsgrenzler oder wie das geheißen hat. Da sind
auch Vandanser oben gewesen, ältere Männer oder so. Aber noch gut erhal-
tene auch. So ungefähr wie mein Vater. Und da sind etliche Vandanser auch
oben gewesen. Und die haben im Rells logiert, wo jetzt das Kirchlein drinnen
369 Hilfsgrenzangestellte bei der Zollwache.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439