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284 derin gut erzogen, und er hat zwei andere gedungen. Das waren zwei JYs. […]
Die JYs haben den Staudt zum Madrisa Hüsli geschleppt, bis zum Gandasee,
[…] und dann zum Gafierjoch. Und da kamen sie dann an diese Stelle, haben
geschrien, und zum Flüchtling gesagt, er solle weitergehen, und sind hinunter-
gerannt. Und dann wurde er abgeschossen. Und jetzt kommt das Schreckliche,
das Unmenschliche. Sie haben den Kerl an den Füßen hinuntergeschleppt,
dass der Kopf bei jedem Stein aufgeschlagen ist. Dann kamen sie zur Madrisa
Hütte und haben ihn in 40 Zentimeter, möglicherweise 50 Zentimeter Tiefe
– es war schon ziemlich harter Boden – verscharrt. Nach zehn Tagen kamen
die Füchse und haben die Leiche aufgefressen. Dann endlich sind die Gargell-
ner wach geworden und haben gesagt: „Der soll hier am Friedhof bestattet
werden.“ Er wurde hier bestattet mit einem kleinen Schild, als Soldat, der im
Krieg gefallen war. Natürlich wieder eine Lüge. […] Man hat natürlich den IX
unter Druck gesetzt und gesagt: „Wenn du das nicht machst, dann gehst du an
die Ostfront.“ Was ist schlussendlich passiert? Drei oder vier Monate später
wurde er eingezogen an die Ostfront. Er war natürlich ein wahnsinnig guter
Schifahrer. Man sieht: Das wird immer beglichen.
Woher AB all diese Informationen über die Vorgeschichte Nikolaus Staudts (deren
weitere Details hier über weite Strecken ausgespart wurden) hat, ist nicht nachvoll-
ziehbar. Aus erzählforscherischer Sicht ist die Gestaltung der Geschichte bemer-
kenswert, sie liefert ein auffallendes Beispiel für den erzählerischen Mechanismus
der Konfabulation. Ohne dass dies in bewusster Absicht der erzählenden Person
geschieht, wird hierbei eine Geschichte im Zuge wiederholten Erzählens ausge-
schmückt und dichterisch verformt.374
AB wechselt in seiner Darstellung dreimal die Perspektive. Erst schildert er die
Vorgeschichte der Flucht Staudts und dessen Annäherung an das Montafon, dann
beschreibt er die Vorgänge des als „Judas“ bezeichneten Verräters IX und schließ-
lich gibt er die Details der Ermordung aus der Perspektive der beiden Handlanger
wieder. AB schildert gerade die Ermordung und den anschließenden Abtransport
sowie das Verscharren der Leiche besonders drastisch, um die Unmenschlichkeit
(„Und jetzt kommt das Schreckliche, das Unmenschliche“) der Täter zu unterstrei-
chen. AB macht aus dem „Verräter aus Gargellen“ im Übrigen als einziger Zeit-
zeuge drei Täter und erhöht so gewissermaßen das unmoralische Potenzial der
einheimischen Bevölkerung, zu der er sich selbst – nicht unwichtig, dies zu erwäh-
nen – als ausländischer Staatsbürger nicht zählt. Die Perspektive des gut informier-
ten Auswärtigen ermöglicht ihm im Unterschied zu vielen anderen ZeitzeugInnen
eine vehementere Kritik der Ereignisse der NS-Zeit.
Analog zur Geschichte um den Verrat und die Ermordung des Deserteurs Niko-
laus Staudt stellt eine weitere sagenartige Erzählung einen wichtigen Bestandteil
des erzählerischen Repertoires Einheimischer zum Thema Flüchtlinge aus dem
Deutschen Reich dar. Erneut handelt es sich um eine Vielzahl von erzählerischen
374 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 43.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439