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Varianten, die im Kern allerdings um ein konkretes Bild kreisen, das von einigen
ZeitzeugInnen beobachtet – oder zumindest detailliert beschrieben weitererzählt
wurde: Zwei Frauen erhängten sich im Jahr 1942 im Kerker von St. Gallenkirch,
weitere Details zu diesem Ereignis können nicht als gesichert betrachtet werden.
Der Volksmund machte aus diesen beiden Frauen jedenfalls Jüdinnen, dazu noch
Lehrerinnen, Schwestern oder Freundinnen, die sich – in den meisten Versionen –
auf der Flucht über die Berge in die Schweiz befanden, wo sie kurz vor der Grenze
festgenommen und in den St. Gallenkircher Kerker gesperrt wurden. Die Erzäh-
lerInnen geben an zu wissen, dass sich die Frauen aus Angst vor dem Konzentra-
tionslager das Leben nahmen.375 Die nachfolgende Erzählung des 1928 geborenen
WW, ergänzt durch die Einwürfe seiner Frau UW, konzentriert sich auf den Kern
der Geschichte: das Bild der erhängten Frauen im Kerker.
WW: Muss ich dir noch erzählen von diesen Juden.
UW: Das hast du dem Pfarrer schon erzählt. [lachen] Hör mir auf mit diesen
Juden.
WW: Ja, ja, aber das ist halt auch ein Erlebnis gewesen.
I: Ja sag.
WW: Das ist gewesen anno 42, 43. 42 ist es glaube ich gewesen. Hat man
zwei Jüdinnen in Gargellen gefangen. So 17, 18 Jahre alt sind sie gewesen.
Und danach hat man sie eingesperrt dort, „i dr Kiecha dert“376. Das ist …
unterhalb ist die Schule gewesen. Und wenn man dort weiter gegangen ist, ist
„d’Kiecha“ gewesen.
UW: Bei den Tritten konntest du unterhalb hinein schauen.
WW: Ja. Wenn man heroben so in die Schule hinein … Hat man grad „i
d’Kiecha“ hinein gesehen. […] Unterhalb drinnen ist auch noch eine Klasse
gewesen, die erste, zweite und dritte. Und dort bist du, wenn du weiter bist, in
„dia Kiecha“ gekommen. Und da habe ich von einem Gendarm einen Bub, hat
RW geheißen, den habe ich gut gekannt. Dann hat er gesagt, „du musst heute
kommen, musst heute kommen“. „Warum? Was ist?“ „Ja, die zwei Jüdinnen,
wo sie eingesperrt haben, die haben sich aufgehängt.“ „Was?“ habe ich gesagt.
I: Ah was.
WW: Ja, hat er gesagt. „Musst du kommen. Musst du schauen kommen.“
Ja, wir haben die Schule fertig gehabt. Wir sind hinunter. Aufgeriegelt. Ich
habe mich nachher e…, ewig habe ich das gesehen. Wir machen so die Türe
auf. Sind sie beide da gewesen. Vor uns, also ein Meter vor uns. Die haben
sich beim Fenster, wo das Kreuz ist, Schnüre herunter gehabt, und haben sich
aufgehängt. Aber gekniet. Weißt du, die haben sich niedergekniet, und haben
einander so gehalten. Grad so … so einander gehalten haben sie sich. Und so
gegeneinander geschaut. So sind sie tot da gehangen. [lacht] Also, wir sind
beide erschrocken, gell. Wird halt der Vater gesagt haben: „Ja, die Jüdinnen,
wo wir gestern eingesperrt haben, die haben sich grad aufgehängt“, oder? Und
375 Hessenberger: Gescheiterte Grenzüberschreitungen. S. 188–191.
376 im Kerker dort.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439