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286 der natürlich hat es mir gleich gesagt. Wir wieder zugeriegelt. Und danach
hat man sie dann fort, diese Jüdinnen, aber man hat nie mehr gewusst, wo sie
hingekommen sind, oder wo man sie beerdigt hat, hat man nie mehr etwas
mehr … Hat niemand mehr etwas gewusst.
I: Und hat man da so gewusst, was da mit den Juden sonst passiert?
WW: Ja, ja. Das hat man … Bei uns herinnen noch nicht so. Da herinnen hat
man gar nichts gewusst. Da hat man einfach gesagt, diese Jüdinnen wollten
in die Schweiz. Die wollten in die Schweiz, und da hat man sie halt beim St.
Antönierjoch dort, hat man sie halt … da ist alles voller Grenzen gewesen, ist
ja Schutzgebiet gewesen. Haben sie sie halt geschnappt. Aber da hat man nie
gewusst, dass man Juden umbringt oder so. Nie etwas. Da herinnen sowieso
nie etwas. Da hat man nie etwas gehört. Oder dass da Lager sind und vergast
hat. Nie. Da hast du gar nie etwas gewusst. Halt eben die zwei da. Die wollten
halt in die Schweiz hinüber, und sind Schwestern gewesen, so 17, 18 Jahre alt
gewesen. „Bua“, das habe ich dort lange … dieses Bild immer vor mir gehabt.
WW beschreibt das Bild der erhängten Frauen sehr eindrücklich und unterstreicht
seine Wirkung auf ihn mit dem Kommentar „ewig habe ich das gesehen.“ Die
Stärke dieses Bildes alleine vermag zu erklären, wieso zahlreiche ZeitzeugInnen
Geschichten zu den mutmaßlichen Ereignissen um den Tod der Frauen in ihre
Lebensgeschichte einflochten. Das Bild selbst bewegte die Menschen, insbeson-
dere im – wie WW klarzustellen versucht: nachträglich erlangten – Wissen um das
Schicksal der jüdischen Bevölkerung. Hier werden Angst und Betroffenheit auf das
Schicksal der beiden Frauen projiziert, und diese Emotionen überdauerten, mit-
hilfe des Bildes, über 60 Jahre. Beeindruckend ist jedenfalls, wie viele Details um
die beiden erhängten Frauen konfabuliert werden und mit welcher Überzeugung
ihre Geschichte und ihre Ängste von den ErzählerInnen wiedergegeben werden.
Die Tragik ihres Schicksals bewirkte ein beständiges Weitererzählen und verwan-
delte schließlich einzelne Beobachtungen in viele sagenartige Erzählungen.
Das Kapitel zu den Flüchtlingen über die Schweizer Grenze soll hiermit abge-
schlossen werden – allerdings nicht ohne den Hinweis, dass einige ZeitzeugInnen
in ihren Darstellungen querverweisen zwischen den Fluchtgeschichten während
des Krieges einerseits und jenen nach Kriegsende andererseits. Immer wieder
wird nämlich darauf hingewiesen, dass entlang der Fluchtstrecken der vormaligen
Opfer kurz darauf die Täter in die Schweiz folgten. Gerade aufgrund der Tatsache,
dass zahlreiche NS-Funktionäre gegen Kriegsende ins Montafon kamen, um hier
Wagen, Waffen und Uniformen zurückzulassen und über die Berge fliehend ein
neues Leben in der Schweiz zu beginnen, war der Eindruck, wie schnell sich das
Blatt mit Kriegsende wieder wendete, den MontafonerInnen besonders deutlich
vor Augen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439