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320 von primitiven, grausamen, wilden Marokkanern ab. WW thematisiert die Grau-
samkeit der marokkanischen Soldaten, indem er ihre Art, die Schafe zu schächten,
als „arg“ oder „furchtbar“ bezeichnet – schließlich räumt er ein, dass seine Familie
anschließend auch mitessen habe dürfen. Mit dem Kommentar „Aber zugegangen
ist es schon wild“ und der Erzählung, wie er von einem Soldaten mit der Waffe
bedroht wurde, als dieser sein Rad ausleihen wollte, weist er allerdings erneut auf
eine andere Mentalität oder zumindest die fremden Gewohnheiten der nordafri-
kanischen Besatzer hin.
CY berichtet von schießwütigen marokkanischen Soldaten: „Und diese Marok-
kaner! Wenn die nur schießen haben können!“ CY erzählt, wie die marokkanischen
Soldaten zum Vergnügen auf Hühner, Kälber oder auch Wild schossen, während
die einheimische Bevölkerung sich die Fleisch-Rationen streng einteilen musste.
Die Darstellungen WWs und CYs thematisieren, wenn man so will, das „Tem-
perament“ der nordafrikanischen Besatzer, über das die Erzähler zwar den Kopf
schütteln, aber nicht ganz ohne Sympathie berichten.
Die Ausschnitte von YY und WX allerdings offenbaren eine Art Rassismus, der
nicht an konkreten Ereignissen festgemacht wird, sondern ganz allgemein über die
„Marokkaner“ urteilt. YY bezeichnet die Nordafrikaner beispielsweise als „ekel-
hafte“ Leute, was er durch die Religion erklärt. Hier wird ein Trend der letzten
beiden Jahrzehnte spürbar, im Rahmen dessen sich Rassismus und Islamophobie
vermischen. Wo Diskriminierung früher mit biologistischen Argumenten gerecht-
fertigt wurde, da werden heute die (islamische) Religion und die Zugehörigkeit zu
einer zumeist undefinierten, diffusen „Kultur“ als Rechtfertigung für die Ableh-
nung einer Bevölkerungsgruppe – insbesondere der MuslimInnen – herangezo-
gen. WX bezieht im Gegensatz zu YY nicht selbst Position, sondern gibt wieder,
was seiner Erinnerung nach über die marokkanischen Soldaten „damals gesagt
wurde“: WX zufolge standen die Männer nicht nur unter dem General-Verdacht
der Homosexualität, sondern mit der Bemerkung „da hat man um die Buben Angst
gehabt“ deutet der Erzähler an, dass Homosexualität offenbar mit pädophilen Nei-
gungen verbunden wurde, derer man die „Marokkaner“ gleichfalls bezichtigte.
WX betont am Anfang und am Ende seiner Darstellung, selbst nur gegenteilige
Erfahrungen gemacht zu haben, und distanziert sich damit von den Vorurteilen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Vorurteile als Formen dis-
kriminierender Stereotype vor allem die marokkanischen Soldaten und weniger
die französischen Besatzer betreffen, was sicherlich auch auf die Exotik von Aus-
sehen und Sprache Ersterer zurückzuführen ist. Die „Marokkaner“ werden in den
Erinnerungserzählungen zumeist in Extremen dargestellt: Wo die einen sich an
besonders einfache und rohe Männer ohne Benimm erinnern, da erzählen die
anderen von freundlichen Kontakten, vorzüglichster Behandlung gerade durch die
Marokkaner und respektvollen Beziehungen. Wie am Beispiel YYs aufgezeigt wer-
den konnte, fließt der Diskurs um Nationen, Rassen und Religionen, wie er in den
letzten Jahrzehnten aufgrund der Zuwanderung in Europa verstärkt geführt wird,
in die Erinnerungserzählungen der ZeitzeugInnen ein.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439