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334 Spannung und Abenteuer stellen wichtige Merkmale der Schmugglergeschichten
dar. Die Beschreibung einer Situation, in der man den Verfolgern von der Zoll-
wache nur knapp entkam, ist ein zentraler Bestandteil klassischer Schmugglerge-
schichten, die durchaus als Mustererzählungen bezeichnet werden können. Der
1925 geborene CY gibt nachfolgend ein Beispiel für eine Schmugglergeschichte,
in der er selbst der Held ist und in der viele Komponenten angesprochen werden,
die gemeinhin mit dem Schmuggeln verbunden werden: Der Erzähler arbeitet als
Hirte auf einer grenznahen Alpe und nutzt die Nähe zur Schweiz, um des Nachts
Kaffee zu schmuggeln, dabei hat er engen Kontakt mit den Zöllnern, die er teils
besticht und teils an der Nase herumführt:
CY: Ich bin Oberhirte gewesen und habe noch einen Bub bei mir gehabt, aber
100 Stück Rinder. […] [Von einem alten Mann, Anm.] habe ich immer Zeug
gekauft. Ein Fernglas oder eine Pistole oder was, der hat alles auf Lager gehabt,
weißt du! Und mit dem bin ich hinunter in die Schweiz und für das Geld habe
ich Zigarettentabak hergeschmuggelt. Kaffee, Saccharin und dieses Zeug habe
ich da hergeschmuggelt. Und meine Mama, die hat [unverständlich] … Die
Doktoren in Schruns, die haben mir immer gesagt, welchen Zigarettentabak
ich bringen muss. Und viele, viele Päckchen habe ich da her … Das habe ich
halt nachgemacht. Weil da habe ich ja nicht weit von der Grenze weg gewohnt!
Und dann bin ich halt in der Nacht hinüber und am Morgen, am Morgen
um sechs … Oft einmal, oder schon früher, sind dann die Zöllner gekommen.
In Gargellen hat es dazumal noch fünf Zöllner gegeben. Fünf. Und die sind
dann gekommen … Und die haben aber genau gewusst, dass ich schmugg-
le, das haben die gewusst. Aber warum? Die habe ich natürlich eingesackt
durch Essen und Trinken. Milch haben sie können trinken, Käse, Schmalz,
sogar einen Riebl habe ich denen gemacht. Die haben genau gewusst, dass ich
schmuggle. Aber die sind den Hunger und den Durst löschen zu mir gekom-
men in diese Alpe. Und dann sind sie gekommen – ich bin gar nicht ausgezo-
gen gewesen! „CY, lass dich nicht stören, wir kommen nur, uns ein bisschen
aufwärmen.“ Und ich habe gesagt: „Ich muss jetzt sowieso aufstehen.“ Dabei
bin ich vielleicht gerade eine halbe Stunde vorher ins Bett! [Lachen] Und dann
bin ich aufgestanden und habe denen einen Riebl gemacht und die haben den
Hunger gelöscht und den Durst mit Milch, ich habe vier Kühe gehabt dabei
bei den Rindern. Und da habe ich selber Käse und Butter fabriziert. Das habe
ich alles gemacht in der Alpe. Und mit dieser Sache, mit dieser Freundschaft
haben mir die Zöllner nichts angetan. Nur ein Wiener ist gewesen, der hat von
mir keine Schüssel Milch bekommen, das ist ein Aufhocker gewesen! [Lachen]
[…] Er hat auch gesagt zu mir: „Ich weiß genau, dass du schmuggelst!“ – „Ja,
weißt du das“, habe ich gesagt. – „Ja, ja, das weiß ich!“ Dann habe ich zu ihm
gesagt: „Dann musst du dich halt auf das Eck da hinaufhocken, dann siehst
du, wenn ich komme!“ [Lachen] Ich habe den so lächerlich … „Schau einmal
hinunter dort, habe ich gesagt. Schau einmal, da gehen ein paar unten!“ Und
dabei sind es Bedienungen gewesen von Gargellen, die haben einen Spazier-
gang gemacht. Und wie er die gesehen hat, ist er weg, als hätte man ihm einen
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439